Vielen Dank, dass Sie alle heute bei diesem Festakt dabei sind.
Ich danke dem Generalsekretär, meinem guten Freund Mark Rutte, für den herzlichen Empfang. Lieber Mark, Du hast dieser Tage einen der wichtigsten und schwierigsten Jobs, die es gibt. Stellen Sie sich vor, bei LinkedIn ginge heute eine Stellenausschreibung online für den Posten des NATO-Generalsekretärs – ich bin mir nicht sicher, wie viele Menschen sagen würden: Klar, das ist was für mich.
Lieber Mark, ich bin wirklich froh, dass Du diesen Posten innehast. Vielen Dank für Deine Führungsstärke und Deine Diplomatie!
Und ich möchte auch Christopher Cavoli danken. Er ist eine herausragende amerikanische Führungspersönlichkeit, ein großer Freund Deutschlands und eine treibende Kraft für dieses Bündnis. Wie Sie alle wissen, ist der SACEUR bereits ein Viersternegeneral – aber seit 30 Minuten ist er außerdem ein Ritter. Und zwar im Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Es war mir ein großes Vergnügen, ihm diese Ehre zuteilwerden zu lassen – herzlichen Glückwunsch, General Cavoli!
Und vor allem aber möchte ich jeder und jedem Einzelnen von Ihnen meinen Dank aussprechen. Ob in militärischer oder ziviler Funktion, ob für das Hauptquartier oder die nationalen Vertretungen: Ich danke Ihnen allen für Ihren Dienst, für Ihre Hingabe. Durch den Dienst für Ihr Land dienen Sie uns allen. Und durch den Dienst für das Bündnis dienen Sie Ihrem Land. Darin liegt die Kraft der NATO, und ich rufe alle auf: Lasst uns das nicht vergessen! Gemeinsam sind wir stärker!
Als Bundespräsident stehe ich vor Ihnen, unseren Verbündeten, um an 70 Jahre Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO zu erinnern. Und wie ich hier stehe, trage ich zwei Gefühle im Geist und im Herzen: vor allem große Dankbarkeit, aber auch ebenso große Dringlichkeit.
Denken wir an 1955: Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs lagen gerade mal zehn Jahre zurück. Gerade mal zehn Jahre seit dem Tod von 60 Millionen Menschen, der Ermordung von 6 Millionen Juden, ganz Europa in Schutt und Asche. Und all das durch die Zerstörung und den Hass, die mein Land entfesselt hat.
"Dankbarkeit“ erfasst nicht einmal im Ansatz, was es für Deutschland bedeutet hat, wieder einen Platz am Tisch zu bekommen, unter den Schirm von Artikel 5 genommen zu werden, sogar sich wieder bewaffnen zu dürfen. Wie nur wenige andere Meilensteine – der Beitritt zu den Vereinten Nationen, die europäische Integration, die sogenannte Ostpolitik – war dieser Moment 1955 ein Schlüssel, ein Schlüssel, der meinem Land den Weg zu Frieden, Wohlstand und Einheit eröffnete. Vor 70 Jahren war dies eine Entscheidung von bemerkenswerter strategischer Weitsicht und Wirkung. Ich kann uns und all unseren Verantwortungsträgern heute nur ein ähnliches Maß an strategischer Weisheit wünschen – denn der vor uns liegende Weg sieht wohl noch ungewisser aus als damals.
Dies war, in Anlehnung an Eric Hobsbawm, ein langes 20. Jahrhundert. Wenn wir heute in die Welt schauen, erleben wir das Ende des langen 20. Jahrhunderts. Es sind Epochenbrüche, die östlich wie westlich von uns im Gange sind. Und an diesem Punkt vermischt sich mein Gefühl der Dankbarkeit mit einem Gefühl der Dringlichkeit.
Alles, was wir aus diesem langen 20. Jahrhundert gelernt haben, scheint heute auf dem Spiel zu stehen. Von der Verheerung zweier Weltkriege über den Kalten Krieg, den Aufbau eines geeinten Europas bis hin zu unserer Hoffnung auf einen dauerhaften Erhalt der liberalen internationalen Ordnung: Dieser Weg hat mein Land zu dem gemacht, was es heute ist. Er hat uns Frieden und Wohlstand gebracht. Er hat alles geprägt, woran wir glauben. Doch jede Lektion, die wir auf diesem Weg gelernt haben, steht nun in Frage oder wird angefochten oder herausgefordert. Deshalb sind wir Deutsche besonders unruhig und besorgt über das, was um uns herum geschieht. Doch ich sage meinen Landsleuten: Wir sollten nicht einfach nur besorgt sein – wir sind gefordert! Wir müssen mehr tun!
Heute, da Putins Krieg gegen die Ukraine mit voller Wucht weiter tobt und die USA ihre europäischen Verbündeten enorm unter Druck setzen, kommt Deutschland eine Schlüsselrolle zu. Deshalb wende ich mich an Sie, unsere Verbündeten, nicht nur mit Dankbarkeit, sondern mit Dringlichkeit. Deutschland wird gerufen – und wir haben den Ruf gehört. Wir haben verstanden! Und auf jeden Fall, lieber Mark: Ihr könnt auf uns zählen!
Wir werden die Bundeswehr weiter stärken, und wir werden mehr in unsere Verteidigungsindustrie investieren. Wir werden mit allen Kräften unsere Verpflichtungen für die Regionalpläne der NATO erfüllen. Wir werden auch weiterhin der größte Unterstützer der Ukraine in Europa sein und eintreten für ihre Freiheit, ihre Souveränität und ihre europäische Zukunft. Und wir werden danach streben, dass Deutschland, mit seinen Streitkräften und seiner Infrastruktur, das Rückgrat der konventionellen Verteidigung in Europa wird.
Die Tatsache, dass der Bundestag, wie Du erwähnt hast, lieber Mark, in großem, parteiübergreifendem Einvernehmen 500 Milliarden Euro über die kommenden zwölf Jahre mobilisiert hat, sollte Ihnen als Beleg dafür dienen, dass wir es ernst meinen. Wir meinen, was wir sagen.
Vielleicht spiegelt sich das Ende des langen 20. Jahrhunderts auch in der sich wandelnden Rolle meines Landes wider. Bis jetzt war jeder Meilenstein für Deutschland, jede Wende zum Besseren in gewisser Weise ein Schritt der Einbindung, der Einhegung, der Integration in etwas Größeres – die NATO, die Vereinten Nationen, die Europäische Union. Schließlich war die Vergangenheit meines Landes, die "Deutsche Frage“ sehr präsent in jedermanns Gedächtnis. Ja, und deshalb haben wir lange Zeit nicht so viel in unsere eigene Verteidigung investiert. Die Zeiten waren andere. Lange Zeit war Krieg in Europa nahezu unvorstellbar geworden.
Doch das Blatt hat sich gewendet. Putin hat den Krieg zurück auf diesen Kontinent gebracht. Er hat Europas Sicherheitsordnung in Trümmer gelegt. Deutschland muss jetzt nicht nur Teil des Ganzen sein, sondern für das Ganze eintreten, vielleicht sogar hervortreten.
Ein schlecht gerüstetes Deutschland ist heute die größere Gefahr für Europa als ein stark gerüstetes Deutschland. Ich denke, praktisch alle unsere Verbündeten sind schon lange zu dieser Überzeugung gelangt – für uns Deutsche ist dieser Satz viel schwerer zu akzeptieren. Und in Anbetracht unserer Geschichte hoffe ich, dass Sie verstehen, warum. Dennoch fordere ich meine Landsleute dazu auf, sich dieser neuen Realität zu stellen. Ich bin überzeugt: Die wichtigste Aufgabe der neuen deutschen Regierung ist es, unsere Bundeswehr zu stärken. Die Lücke zwischen Zusagen und Fähigkeiten zu schließen und die Zeitenwende zu vollenden. Wir brauchen ein starkes Militär – nicht um Krieg zu führen, sondern um ihn zu verhindern. Und als ehemaliger Diplomat füge ich hinzu: Auch unsere Außenpolitik braucht ein starkes Militär – nicht um Diplomatie zu ersetzen, sondern damit sie glaubhaft ist.
Ein Zeitalter geht zu Ende und ein neues beginnt – eines, das bislang gewiss nicht rosig aussieht.
Natürlich gibt es Zweifel. Es gibt viele Gründe zu zweifeln – jedes Mal einen neuen Grund, wenn man die sozialen Medien öffnet.
Zweifel gibt es auf beiden Seiten des Atlantiks. Viele Amerikaner fragen: Was haben wir davon? Warum kann Europa nicht endlich für sich selber sorgen? Und viele Europäer fragen: Was ist mit unserem größten Verbündeten passiert? Warum werden wir nicht wie Partner behandelt, sondern wie Bittsteller?
Bei der heutigen Gedenkfeier zum 70. Jahrestag zum NATO-Beitritt Deutschlands erlaube ich mir, einen Schritt von der täglichen Erregungsmaschine zurückzutreten. Wenn ich heute voller Dank auf sieben Jahrzehnte in Freiheit und Sicherheit zurückschaue, frage ich mich: Was brauchen wir, damit wir auch in 70 Jahren unsere Freiheit und Sicherheit schützen können? Meine Antwort lautet: Wir brauchen weiterhin die Stärke des Bündnisses. Wir brauchen ein Bündnis, das auf zwei gleich starken Beinen steht: einem starken Europa und einem starken Nordamerika. Wie Du gesagt hast, lieber Mark: Rückversicherung läuft in beide Richtungen. Und wenn beide Beine der NATO gleich stark sind, dann bin ich sicher, dass dieses Bündnis für beide Seiten des Atlantiks von unersetzlichem Wert ist.
Sehen Sie es doch einmal so: Dieses Bündnis ist geboren aus der Stärke der Demokratien im 20. Jahrhundert. Kein Land, nicht einmal die USA, könnten im 21. Jahrhundert ein solches Bündnis noch einmal gründen. Doch wir alle, auch die Stärksten, werden in diesem 21. Jahrhundert auf Verbündete angewiesen sein. Also denken wir daran, was für uns alle auf dem Spiel steht!
Ich will mit einem letzten Gedanken schließen: Wir sprechen viel darüber, wie wir uns besser verteidigen. Aber wir sollten nicht vergessen, was wir eigentlich verteidigen. Es geht nicht nur um unser Territorium. Es geht um unsere Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Ich denke, wir wissen alle, dass all das nicht nur von außen, sondern auch von innen angegriffen wird. Wir alle spüren in unterschiedlicher Weise in unseren verschiedenen politischen Kulturen, wie sich autoritäre Trends und Tendenzen unheilvoll ausbreiten. Das lange 20. Jahrhundert mag enden – aber seine Lehren sind nicht von gestern. Sie können auf Deutschlands Bekenntnis zur NATO zählen, aber genauso auf unser Bekenntnis zu den Prinzipien, die uns am Herzen liegen.
Jeder, der auf die deutsche Geschichte blickt, sieht, wie Dinge sich zum Schlechten und wie sie sich zum Guten gewendet haben. Jeder, der auf die Welt von heute blickt, sieht, dass in unserer Zukunft beides möglich ist.
Daher lassen Sie uns Sorge tragen, dass dieses kostbare Bündnis und seine Werte stark bleiben! Es wird uns vieles abverlangt: militärische Stärke und politische Klugheit. Ein Bekenntnis zu unseren Werten und Respekt für unsere Partner. Deutschland ist bereit, all das zu geben.