Was für eine Kulisse! Was für ein Wetter! Das ist kein Wunder: Es ist Kirchentag! Guten Abend, Hannover! Ich habe mich auf Euch, auf diesen Moment, auf diesen Ort gefreut. Für mich ist das heute ein dreifaches Nachhausekommen. Hier in dieser Stadt habe ich viele Jahre gelebt, gerne gelebt, und gearbeitet. Zweitens: Es war ein Kirchentag vor langer Zeit hier in Hannover, auf dem ich meine erste Bibelarbeit vorstellen durfte. Und drittens ist doch eigentlich jeder Kirchentag ein wenig wie nach Hause kommen: Man trifft bekannte Gesichter, Weggenossen, freut sich über manches Wiedersehen.
Jedenfalls mir geht es so. Und ganz vielen anderen auch. Und ganz in diesem Sinne, liebe Schwestern und Brüder: herzlich willkommen Euch allen auf dem 39. Evangelischen Kirchentag in Hannover!
Wir alle sind hier, weil wir gemeinsame Sorgen, gemeinsame Hoffnungen, gemeinsame Träume haben. Und weil uns Überzeugungen verbinden. Die eine mag uns, wenn wir zu Hause sitzen, besser gefallen als die andere. Aber gerade deswegen, weil es eben hier bei uns genauso zugeht wie in einer ganz normalen Familie, ist es für uns evangelische Christen immer wieder der Kirchentag, wo wir uns alle zusammenfinden, weil wir alle zusammengehören.
Er ist der Ort, an dem wir die Fragen stellen, die uns gerade auf den Nägeln brennen, ob es um Politik geht, um Gesellschaft, um Glauben. Er ist der Ort, wo alles zur Sprache kommen kann, was uns persönlich bewegt: ob es die Entwicklung unserer Kinder ist oder das Altwerden unserer Eltern; ob es die Frage nach dem Sinn von Krankheit und Leid ist oder die nach dem Gelingen von Beziehung und Partnerschaften. Der Kirchentag ist auch der Ort, wo wir nach dem fragen, was uns gemeinschaftlich und gesellschaftlich bewegt: ob es die Verständigung zwischen den Generationen ist oder die zwischen den verschiedenen Lebenswelten; ob es die Verständigung zwischen unterschiedlichen Herkünften ist und auch die zwischen unterschiedlichen politischen Überzeugungen. Wir fragen nach den Bedrohungen unseres demokratischen Gemeinwesens und nach dem, was uns hilft, es zu beschützen und zu verteidigen.
Damit ist der Kirchentag auch für unsere Gesellschaft ein wichtiger Ort – und man müsste ihn erfinden, wenn es ihn nicht gäbe. Denn wir wissen und beklagen häufig genug laut, dass unsere Gesellschaft immer fragmentierter wird und sich die Einzelnen nur in ihren eigenen kleinen Welten und Weltbildern bewegen. Eine solch kleine Welt von Eingeweihten und Einverstandenen zu werden, das kann auch für den Kirchentag eine Gefahr sein. Er ist aber auch wie kaum eine andere Veranstaltung die seltene Chance, dass wir uns aus unseren ideellen Fertighäusern herausbegeben. Der "Markt der Möglichkeiten" ist immer noch ein wunderbares Bild dafür, was in einer Gesellschaft möglich sein kann, wenn die Fähigkeiten und das Können, die Ideen und das Engagement der Vielen zusammenkommen. Erst einmal wahrnehmen, bevor man bewertet, erst einmal zuhören, bevor man urteilt, erst einmal etwas machen lassen, bevor man schon wieder abwinkt.
So ist der Kirchentag der Ort, wo wir uns gegenseitig in Frage stellen und gleichzeitig einander Unterstützung geben, wo wir uns gegenseitig kritisieren und ermutigen, wo wir uns aus Lethargie aufrütteln und in zu großen Aufgeregtheiten beruhigen können. Wenn hier auch gestritten wird, ist das kein Anlass zur Beunruhigung. Wir müssen doch hoffen, dass in unserer evangelischen Kirche die Unterschiede so lebendig sind, dass es sich lohnt, hier in Hannover miteinander zu reden, zu streiten und sich auseinanderzusetzen. Und hoffentlich ist das, was uns Christen verbindet, noch stark genug, damit wir in unseren Begegnungen gemeinsame Wege immer wieder neu finden.
Der Kirchentag ist schließlich auch der Ort, wo wir zugeben können, dass wir uns selber nicht Antworten auf alle Fragen geben können, die wir haben. Dass wir uns selber nicht die letzte Orientierung geben können, die uns den Weg weist. Es ist deswegen auch ein Ort der Bibelarbeiten, des Gebetes und des Gottesdienstes, das heißt also: der Ort des Zuspruchs, der uns geschenkt wird. Zuspruch – das ist es vielleicht, was gerade heute die meisten von uns ersehnen und brauchen.
Einerseits stimmt zwar: Das Motto des diesjährigen Kirchentages – mutig, stark, beherzt – ist zunächst eine Aufforderung, ein Gebot. Seid mutig! Seid stark! Seid beherzt! Und das ist sicher auch richtig. Wir brauchen mutige, starke und beherzte Menschen: mutige Politiker, Polizistinnen und Lehrer, starke Ärztinnen, Journalisten und Ingenieurinnen, beherzte Sozialarbeiter, Krankenschwestern, Pastoren und viele andere mehr. Und wir alle könnten, jeder von uns, sicher selber noch ein Stück mutiger, stärker, beherzter sein, als wir sind.
Aber fällt das nicht in diesen Zeiten gerade besonders schwer? Wo wir jeden Tag mit neuen Nachrichten erwachen, die wieder die uns bekannte Welt auf den Kopf zu stellen scheinen? Flüchten nicht inzwischen viele vor der Flut schlechter Nachrichten und ziehen sich zurück? Haben nicht viele von uns echte Sorgen, ja Ängste vor der Zukunft? Und wenn nicht vor der eigenen, dann vor der unserer Kinder und Enkelkinder?
Ja, so ist es. Und so ist heute, in diesen Tagen, vielleicht die wichtigste Botschaft, die Kirche der Welt geben kann, dass wir Hoffnung haben dürfen, dass wir als Christen Zuversicht haben dürfen, dass die Zukunft offen ist, dass wir uns von Bedrängnissen der Gegenwart befreien können. Es ist dieser Zuspruch aus dem Glauben, der es uns ermöglicht, stark und beherzt zu sein, der uns befähigt, in der Gesellschaft und in der Welt zu wirken und sie Tag für Tag ein Stück besser zu machen.
Vor 80 Jahren starb Dietrich Bonhoeffer, als Widerstandskämpfer gegen das Unrecht hingerichtet im KZ Flossenbürg. Er hat seine Kraft - größer, unendlich viel größer, als wir sie heute brauchen – er hat diese Kraft und seine Widerstandsfähigkeit aus dem Vertrauen in einen solchen Zuspruch aus Glauben gewonnen: Von guten Mächten wunderbar geborgen.
Er hat gleichzeitig deutlich gemacht, dass solcher Zuspruch immer auch eine buchstäbliche Zu-mutung ist: eine Ermutigung und Aufforderung, sich aktiv einzumischen.
Beides sollte für uns alle, für unsere Kirchen und für unsere Gesellschaft, von diesem 39. Evangelischen Kirchentag in Hannover ausgehen: Zuspruch und Ermutigung.
Kirchentag ist wie nach Hause kommen. Damit wir danach mutiger, stärker, beherzter in unseren Alltag zurückkehren können. So sollten wir in diesen 39. Evangelischen Kirchentag hineingehen. Ich wünsche gute Gespräche, viele nachdenkliche, noch viel mehr fröhliche Momente in den nächsten vier Tagen.
Und ich will ganz herzlich danken all denjenigen, die das für diese kommenden vier Tage hier möglich gemacht haben. Und Ihnen allen: vielen Dank fürs Kommen!