"Israel hat uns die Hand gereicht"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 12. Mai 2025

Bundespräsident Steinmeier hat bei einem festlichen Abendessen zur Würdigung des 60-jährigen Jubiläums der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel unterstrichen: "Demut und Dankbarkeit bleiben maßgebend für unsere Beziehung, für alles, was wir einander sagen, wie wir miteinander umgehen, auch in schwerer Zeit wie heute."

Wir erinnern gemeinsam an ein Wunder an diesem wunderschönen Abend in Schloss Bellevue. Ein politisches Wunder. Ein menschliches Wunder.

Dass Israel und Deutschland heute einander in tiefer Freundschaft verbunden sind, das war nach dem Zivilisationsbruch der Shoah ganz und gar unvorstellbar. Dass Israel – das Land der Überlebenden, der Kinder und Enkel der Ermordeten – unserem Land jemals die Hand reichen würde, war ein Geschenk, das kein Deutscher erwarten durfte.

Und dennoch: Israel hat uns die Hand gereicht. Und wir haben sie ergriffen, immer im Wissen um deutsche Schuld und unsere Verantwortung. Auch 60 Jahre später schaue ich voller Dankbarkeit, voller Demut auf dieses Geschenk der Versöhnung. Verlieren wir es niemals aus den Augen! Demut und Dankbarkeit bleiben maßgebend für unsere Beziehung, für alles, was wir einander sagen, wie wir miteinander umgehen, gerade auch in schwerer Zeit wie heute.

Das Wunder der Versöhnung mit Israel und Juden in aller Welt – es ist zuallererst ein menschliches Wunder. In überragender Weise steht dafür die wunderbare Berliner Jüdin Margot Friedländer. Sie hat uns Deutschen nicht nur die Hand gereicht – sie ist zurückgekehrt, sie hat uns ihr übergroßes Herz und ihre unerschütterliche Menschlichkeit geschenkt. Am vergangenen Freitag ist sie in gesegnetem Alter von uns gegangen. Ich bitte Sie, sich zu einer kurzen Schweigeminute zu erheben im Gedenken an die verehrte Margot Friedländer. Vielen Dank.

Sie alle wissen es, die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland wurden heute vor 60 Jahren formell aufgenommen. Der Weg dahin war steinig. Wie sollte es anders sein. Der erste Schritt war das Luxemburger Abkommen 1952 – zur "Wiedergutmachung“. Eine unglückliche Wortwahl, denn nichts ließ sich oder lässt sich "wieder gut machen“. Kein Blutgeld aus Deutschland, riefen damals Demonstranten in Israel. Und in Deutschland? Fast jeder Zweite hielt das Abkommen für überflüssig.

Welches Glück, dass David Ben-Gurion und Konrad Adenauer einander vertrauten. Sie glaubten an die Möglichkeit der Versöhnung und machten mutig den ersten Schritt.

Viele Schritte folgten – vor allem jenseits der Politik. Was als politische Absicht begann, musste gesellschaftlich wachsen. Es waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Gewerkschafter, Lehrkräfte, Schüler, Studierende, die begannen, Brücken zu schlagen. Es waren die vielen kleinen Schritte – von Jugendbegegnungen bis zu Städtepartnerschaften, von Studienreisen bis zu Kulturaustausch –, die zu einer Annäherung über den Abgrund der Geschichte führten.

Seit 70 Jahren gibt es den deutsch-israelischen Jugendaustausch, demnächst, so hoffe ich, ein deutsch-israelisches Jugendwerk. Gestern erst kamen junge Handwerkerinnen und Handwerker aus Deutschland und Israel auf Einladung meiner Frau und des deutsch-israelischen Zukunftsforums hier in Bellevue zusammen. Gemeinsam werden sie an Projekten arbeiten – unter anderem der Renovierung des ehrwürdigen Leo-Baeck-Instituts in Jerusalem. Und heute, lieber Isaac, haben wir Jugendliche des deutsch-israelischen Jugendkongresses getroffen und intensiv mit ihnen gesprochen. Wir wollen sie ermuntern, an eine bessere, friedliche Zukunft zu glauben, für sie zu arbeiten und – wo nötig – auch zu streiten. Wir haben von all diesen jungen Menschen gehört: Sie wollen, dass Israel und Deutschland auch in 60 Jahren noch zwei starke liberale Demokratien sind – dafür tragen wir heute die Verantwortung. Auf die neue Bundesregierung, wenn ich das von hier aus sagen darf, Herr Bundeskanzler, darf Israel dabei zählen.

Die enge Verbundenheit unserer beiden Länder gehört zur Identität meines Landes. Mir persönlich bedeutet sie unendlich viel. Und ebenso viel bedeutet mir die Freundschaft zu Präsident Herzog, zu Dir, lieber Isaac. Wir kennen uns jetzt seit zwanzig Jahren. Wir sind uns in diesen Jahren in unterschiedlichen Rollen und Verantwortungen wieder und wieder begegnet – ein Dauergespräch über zwei Jahrzehnte. Wir haben einander durch Höhen und Tiefen begleitet, im Politischen wie im Privaten. Ich bin dankbar, Dich meinen Freund nennen zu dürfen. Gemeinsam haben wir in Bergen-Belsen am Gedenkstein für Deinen Vater gestanden, der als Angehöriger der britischen Armee an der Befreiung Deutschlands mitgewirkt hatte.

Und: Nie, nie werde ich den Moment vergessen, als ich Deine Stimme, lieber Isaac, am Telefon hörte, an jenem 7. Oktober. Du musstest gar nicht viel sagen. Ich hatte Dich noch nie so erschüttert erlebt. Niemals seit dem Holocaust sind so viele Jüdinnen und Juden an einem einzigen Tag ermordet worden. Nie werde ich unseren gemeinsamen Gang durch das Kibbuz Be‘eri vergessen: blutverschmierte Wohnungen und Hauswände, verstreute Kinderkleidung, verbrannte Schlafzimmer. Und den Bewohnern war das Entsetzen auch Wochen nach dem Angriff noch ins Gesicht geschrieben!

Der 7. Oktober liegt anderthalb Jahre zurück, aber er lastet noch immer schwer auf Israel. Seine Auswirkungen sind auch in unserem Land zu spüren. Leid und Wut, Schmerz und Hass reichen tief nach Deutschland hinein, wühlen Menschen auf. Und es ist eine bittere Erkenntnis an diesem Jahrestag: Der Antisemitismus in Deutschland hat seit dem 7. Oktober ein neues, erschreckendes Ausmaß gefunden. Egal von wem er kommt, egal in welches Gewand er sich kleidet: Wir müssen diesen Hass bekämpfen – den Hass auf Juden, und den Hass auf Israel. Solange Antisemitismus und Israel-Hass auf deutschen Straßen und Plätzen, in Hörsälen und an Stammtischen Raum finden, solange werden wir dem Geschenk der Versöhnung nicht gerecht. Das ist unsere immerwährende Pflicht, nicht nur am 60. Jahrestag.

Wir begehen den Jahrestag nicht unbeschwert. 60 Jahre deutsch-israelisches Wunder sind Grund zur Freude, aber so recht kann Feierstimmung nicht aufkommen. Wie auch? Israel ist überfallen worden, Israel ist im Krieg und Israel kommt auch im Inneren nicht zur Ruhe.

Als Freunde Israels leiden wir mit den Menschen. Wir leiden insbesondere mit den Geiseln der Hamas und ihren Angehörigen – darunter auch deutsche Landsleute. Die verbleibenden Geiseln müssen freikommen, die Toten müssen heimkehren!

Aber als Freunde Israels leiden wir nicht nur mit, wir sorgen uns auch um den Weg aus dem Leid. Die Feinde Israels halten sich nicht an Regeln, aber wir müssen es tun. Als Demokratien und Rechtsstaaten dürfen wir nicht hinwegsehen über das sich auftürmende Leid unter der Zivilbevölkerung Gazas. Jeden Abend sehen wir in den Nachrichten Bilder von hungernden Kindern und verzweifelten Müttern. Über all das und wie eine Verbesserung der humanitären Lage gelingt, haben wir heute Morgen ausführlich gesprochen.

Der große Jitzchak Rabin – vor 30 Jahren ermordet – hatte den Leitsatz: den Terror bekämpfen – und zugleich den Frieden suchen. Ohne die Suche nach Frieden werden Krieg und Besatzung ein Leiden ohne Ende. Das war seine Überzeugung und sie ist auch 30 Jahre nach seiner Ermordung nicht falsch geworden.

Ich glaube, jedem fällt es schwer, in dieser dunklen Zeit Hoffnung und Zuversicht zu schöpfen – ganz besonders den Menschen in Israel. Ich möchte dennoch versuchen, eine Hoffnung zu formulieren – eine Hoffnung, die diesem Jahrestag innewohnt.

Denn: In unserer deutsch-israelischen Geschichte sehen wir, wie aus tiefsten Abgründen Frieden, ja sogar Versöhnung, wachsen kann. Es brauchte viel Zeit, politischen Mut und die Anstrengung von vielen! Das deutsch-israelische Wunder zeigt: Frieden ist möglich, Versöhnung ist möglich.

Vielleicht haben derzeit wenige diese Hoffnung. Ich habe sie. Und ich weiß aus meinen jüngsten Reisen in die arabische Nachbarschaft, nach Riad, Kairo und Amman, dass die Bereitschaft groß ist, die ewige Feindschaft zu Israel hinter sich zu lassen, politische Verhandlungswege zu suchen, die Beziehungen zu normalisieren, und eine friedliche Zukunft im Nahen Osten zu beschreiten. Solche Töne gibt es und die Ernsthaftigkeit solcher Bekundungen gilt es zu testen. Israel sollte diese Chance ergreifen, bevor sich ein Fenster der Gelegenheit wieder schließt.

Ich habe die Hoffnung, dass Israel das Trauma des 7. Oktober überwindet; dass es die Hamas besiegt, indem es den Terror bekämpft und gleichzeitig den Frieden sucht; dass es in innerem und äußerem Frieden leben kann.

Die Bewunderung für Israel – diese kleine, starke, stolze Demokratie mit ihren humanistischen Wurzeln, ein jüdischer Staat erstanden aus der Asche der Shoah - hat mein politisches Leben geprägt. Heute wünsche ich mir sehnlich, dass Israel zu diesen stolzen, optimistischen Wurzeln zurückfindet.

So wie Israel ein Anker der Hoffnung für viele Deutsche war, die sich mit der Last der deutschen Geschichte auseinandergesetzt haben, so verdienen die Menschen in Israel heute einen Anker der Hoffnung und der Menschlichkeit. Israel, ebenso wie seine Nachbarn, soll hoffen dürfen auf eine bessere Zukunft. Soweit wir nur irgend können, wollen wir Deutsche helfen auf diesem Weg.

Ich erhebe mein Glas auf die deutsch-israelische Freundschaft, auf das Wunder der Versöhnung, auf die Möglichkeit des Friedens. Und auf Dein Wohl, lieber Freund, auf Dein Wohl, liebe Michal! Le Chaim.