In Westfalen ist seit mehr als tausend Jahren eine Menge los. Schauen wir uns nur die wirklich großen Jubiläen an, die in den wenigen vergangenen Jahren gefeiert worden sind und zu denen jeweils der Bundespräsident, selber Westfale, in seine heimatliche Region kommen und mitfeiern durfte: 500 Jahre Libori-Fest in Paderborn, 900 Jahre Lippe und 1.200 Jahre Kloster Corvey.
Und dann gab es noch die zahllosen kleineren, die unrunden Jubiläen. Darunter 40 Jahre "Skulptur Projekte Münster", eine Tradition, die sich mit der bekannten westfälischen Beharrlichkeit schon in zwei Jahren zum 50. Jahrestag sicher verstetigt haben wird. Oder neulich erst, bei der Friedenskonferenz in Münster, wurde wie jedes Jahr an den Frieden von Münster und Osnabrück von 1648 erinnert. Kein rundes Jubiläum diesmal, aber der Westfälische Friede bleibt ein fester Bezugspunkt der europäischen Geschichte.
Historische Jubiläen also, wohin man blickt – und so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren: In den letzten gut tausend Jahren ist Westfalen eigentlich kaum jemals zur Ruhe gekommen.
Und heute und in diesem Jahr feiern wir sozusagen das grundlegende Datum, von dem alles andere ausging: 1.250 Jahre Westfalen. Wenn man sich überlegt, wie unendlich lange einem schon die fast siebzig Jahre vorkommen, in denen Schalke 04 nicht mehr Deutscher Meister geworden ist, kann man erst recht ermessen, wie endlos lange das ist: eintausendzweihundertundfünfzig Jahre!
Vor über tausend Jahren also wurde ein Krieg gegen die Sachsen beschlossen, geplant und begonnen, bei dem dann die erstmals so genannten "Westfalaos", so etwas wie eine Untergruppe, ein Unterstamm der Sachsen, zu den Besiegten gehörten. Ein kleiner Trost: Immerhin war es niemand Geringerer als Karl der Große, dem sie unterlagen.
Zum ersten Mal genannt, zum ersten Mal in der Weltgeschichte aufgetaucht – und dann erst einmal als Verlierer: Das ist natürlich Pech. Aber allzu schwer hat man das hier nicht genommen. Vielleicht auch deshalb, weil der Westfale, wenn ich einmal diesen kollektiven Singular benutzen darf, sich aus ganz großen Anlässen, seien sie positiv oder negativ, nicht allzu viel macht. Das galt damals, und das gilt bis heute. Eine Skepsis gegen alles allzu Große, allzu Feierliche, allzu Pompöse ist hier in Westfalen charakteristisch. Wenig Pathos, wenig Rührung – auch wenn Heinrich Heine uns Westfalen in "Deutschland. Ein Wintermärchen" als "sentimentale Eichen" bezeichnet. Aber kein Wunder, der war ja auch Rheinländer.
Wenn man bei mir zu Hause einen Lipper fragt, der gerade eine der kleineren oder größeren menschlichen Katastrophen erlebt hat, wie es denn weitergehen soll, dann ist der maximal vorstellbare emotionale Ausbruch ein "Jau, nutzt ja nix". Für alle Nichtwestfalen: Das darf man nicht missverstehen – das ist kein Pessimismus und schon gar keine Resignation vor den Widrigkeiten der Umstände oder überhaupt des Lebens. Nein, "nutzt ja nix", das ist der pragmatische Ausdruck dafür, das Leben, also auch die Geschichte erst einmal zu nehmen, wie sie kommen. Dass man dann andererseits nach Kräften, mit Einsatz und Fleiß versucht, das Beste daraus zu machen, das ist die andere Seite, die positive Einstellung zu den Herausforderungen des Tages und der Zeiten.
So haben wir in den letzten Jahrhunderten sogar das friedliche Zusammenleben von Protestanten und Katholiken in diesem Landesteil hingekriegt – nach und nach. Die scharfen Konfessionsgrenzen, an die ich mich aus meiner Jugendzeit noch gut erinnere, haben an Bedeutung verloren. Und dass Katholiken und Protestanten sich in einer gemeinsamen Sparkasse Paderborn-Detmold sogar gegenseitig ihr Geld anvertrauen, das war vor einigen Jahrzehnten überhaupt noch nicht vorstellbar. Aber, verehrter Herr Erzbischof, bis zum gemeinsamen Abendmahl dauert es noch ein bisschen, habe ich gehört.
Wann und unter welchen Umständen die Bewohner einer bestimmten Gegend oder wann Völker zum ersten Mal urkundlich auf sich aufmerksam machen und in die erzählte Geschichte eintreten, das hängt meist vom reinen Zufall ab. Die scheinbar so eindeutige Zahl, also hier die 775, ist ja natürlich alles andere als eindeutig. Denn selbstverständlich hat es zum Beispiel Westfalen, also die Gegend, Wälder, Handelswege, Siedlungen und die dort lebenden Menschen, schon lange vor diesem Datum gegeben.
Aber dennoch hat eine solche Zahl und hat auch die Feier eines solchen Jubiläums ihre volle Berechtigung. Vielleicht heute erst recht und auf eine noch stärkere Weise als zu anderen Zeiten.
Denn wir befinden uns, das spürt jeder, in einer Zeit des Umbruchs, einer Zeit der Transformation: Wir meinen und spüren, nur wenige echte Sicherheiten zu haben, nur Weniges, auf das grundsätzlich Verlass ist, das heute so gültig und tragfähig ist wie gestern und auch morgen.
Gleichzeitig leben wir nun schon länger in einer Zeit der Globalisierung, wo es praktisch kein wesentliches Ereignis irgendwo auf der Welt gibt, das uns nicht auf die eine oder andere Weise anginge, das auf die eine oder andere Weise auch für unser eigenes Leben, für unsere eigene Gesellschaft, für unsere Wirtschaft und unsere Politik Konsequenzen hätte. Der Raum und die Zeit werden also gleichsam entgrenzt. Und wo keine oder nur schwache oder kaum noch erkennbare Grenzen von Raum und Zeit sind, geht Orientierung verloren. Die Gegenwart mit ihrer unerhörten Ereignis- und Informationsfülle, mit dem, was täglich an Neuem und, wie es scheint, Noch-nie-Dagewesenem geschieht, wird zu einem fast absoluten Bedeutungsträger.
Da tut so ein Jubiläum, da tut so ein Jubiläumsjahr, wie das, was wir heute beginnen, gut. Es gibt räumliche und zeitliche Orientierung, räumliche und zeitliche Umrisse von Identität.
Es zeigt zum einen räumliche Konturen unseres So-und-nicht-anders-Seins, indem es sich auf eine bestimmte Region, hier also Westfalen, bezieht. Zwar hat sich dieses Westfalen im Laufe seiner über tausendjährigen Geschichte immer wieder ein wenig verändert, zwar gehörten mal weniger, mal mehr Gebiete dazu. Aber das heutige Westfalen, das ist das mit seinen markanten lokalen Besonderheiten, mit dem Kloster Corvey, den Wildpferden bei Dülmen, mit der Burg Vischering bei Lüdinghausen und Sankt Maria zur Wiese in Soest, mit dem Hermannsdenkmal, wo der Arminius gerade die Arminia feiert, der Porta Westfalica, mit der Universität zu Münster und der "gelben Wand" im Dortmunder Stadion, mit der Möhnetalsperre und vielen weiteren Zeugnissen alter Industriekultur.
Das und vieles mehr, was Westfalen ausmacht, das gehört eben genau hierher, das ist nicht beliebig transportabel. Und wie der "Knabe im Moor" der Annette von Droste-Hülshoff, wie der Kiepenkerl in Münster gehören auch Geschichten, fiktive Gestalten und Traditionsfiguren unverrückbar hierher. All das ist in Westfalen verortet und gibt uns so buchstäblich einen Ort. Wir brauchen das, diese "Verortung". Es geht nicht um selbstgefälligen Provinzialismus, wenn wir auch stolz sind auf das, was unsere Heimat ausmacht. Nein: Wir werden uns selbst erkennbar in dem, was uns anders und besonders macht. Und die Heimat gehört zu dieser Besonderheit dazu.
Zum anderen gibt uns so ein Jubiläum einen bestimmten Raum in der Zeit: Nicht mit uns fängt die Welt an, nicht mit uns fängt Westfalen an. Wir sind die Erben einer langen Geschichte. Einer Geschichte aus Erfolgen und Niederlagen, aus glücklich Erreichtem, aber oft auch aus tiefer Not und Leid. 1.250 Jahre, das macht auch ein bisschen demütig, und es kann ein Stück weit dasjenige relativieren, was wir in der Gegenwart heute für so absolut bedeutend, für so unendlich wichtig, für alles entscheidend halten.
Natürlich gibt uns das auch die Aufgabe, das Erhaltene zu bewahren, zu pflegen und zu schützen. Je mehr uns die Ausstellung und die mit dem Jubiläum verbundenen Veranstaltungen dieses kostbare und reichhaltige Erbe wieder vor Augen stellen, umso mehr werden wir hoffentlich motiviert sein, es zu bewahren und in die Zukunft zu führen.
Dieses Jubiläum sagt uns: Wir kommen von weit her. Aber vor allem haben wir noch viel vor uns! Und so wenig einfach der Weg für unsere Vorfahren oftmals war, so sehr wird er auch uns und den nachfolgenden Generationen etwas abverlangen.
Ich habe immer gefunden, dass das westfälische Wappentier, das ja auch im Logo des Jubiläumsjahres ist, ein Zeichen für Optimismus ist und für den Mut, immer wieder neu anzufangen, immer neue Herausforderungen offen anzugehen: Das steigende Ross scheut nicht das Wagnis. Es ist bereit, die Hindernisse und Gräben, die gewiss kommen werden, wie sie in der Geschichte immer gekommen sind, anzugehen, um sie zu überwinden.
1.250 Jahre Westfalen: Grund zum Staunen und zu Dankbarkeit für eine so lange und reiche Geschichte. Aber auch Ermutigung – für die nächsten Schritte und für die weitere Zukunft.