Das Höchste im Leben der einzelnen Menschen, wie im Gesammtleben des Volkes im Staate, ist die Würdigkeit der Existenz.
Dieser kluge Satz, er kann nur von einem Sohn dieser Stadt sein, von Hermann Schulze-Delitzsch. Er sagte ihn 1849, im preußischen Landtag. Und in dem Satz klingt etwas ganz Wesentliches an, das unsere heutige Demokratie vom damaligen Obrigkeitsstaat unterscheidet. Unser Grundgesetz stellt die Würde des Menschen an erste Stelle. Und der demokratische Staat, das sind wir alle. Er ist so gut und so erfolgreich, wie wir alle – die Bürgerinnen und Bürger – ihn machen.
Und deshalb ist es mir eine ganz besondere Freude, Sie heute zu ehren: für Ihr Engagement, für Ihre Verdienste um unser Land! Verdienste um die musische Bildung, Verdienste um das gute Ansehen unseres Landes in der Welt, Verdienste um seine Jugend, seine Nachbarschaftskultur, seine Vielfalt, seine starke Zivilgesellschaft. Und dafür danke ich Ihnen allen!
In den vergangenen drei Tagen habe ich Delitzsch, diese wunderschöne Stadt, besser kennengelernt – auch abseits dieses herrlichen Barockschlosses und der historischen Altstadt, durch die wir gerade gekommen sind. Ich habe die große Energie gespürt, mit der hier angepackt wird: mit Investitionen in Infrastruktur und Lebensqualität – allen voran das neugebaute Elberitzbad. Wo öffentliche Schwimmbäder als Orte der Begegnung nicht geschlossen werden, sondern sogar Neue gebaut werden, da gibt eine Stadt, da gibt eine Kommune auch ein Signal der Hoffnung und ein Signal für Zukunft. Und das finde ich großartig!
Und solche Signale setzt Delitzsch auch in Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft: mit Einrichtungen wie der Theaterakademie Sachsen, die hier Schauspieler und Musicaldarsteller ausbildet; mit innovativer Forschung, wie am Center for the Transformation of Chemistry (CTC), um die chemische Industrie auf dem Weg in die Zukunft, hin zu einer Kreislaufwirtschaft voranzubringen. Delitzsch macht das auch mit engagierten, traditionsreichen Unternehmen und einem starken Band guter Nachbarschaft. Vor allem aber mit Menschen. Mit Menschen, die anpacken; mit Menschen, die bereit sind, sich zu Wort zu melden und miteinander ins Gespräch zu kommen.
Gestern Nachmittag haben wir im Bürgerhaus an einer "Kaffeetafel kontrovers“ miteinander diskutiert: einem ständigen Format, bei all meinen Ortszeiten an dem mir viel liegt. Wir haben gestern diskutiert über die Frage: Wehrpflicht, Wehrdienst, soziale Pflichtzeiten?
Und es wird Sie nicht überraschen: Natürlich waren nicht alle einer Meinung. Aber es ist wichtig, dass wir miteinander ins Gespräch kommen und wieder einüben, wie wir politisch miteinander reden und streiten – im gegenseitigen Respekt nämlich. Das verlangt Demokratie, es ist die Grundlage von Demokratie überhaupt.
Ich verlege deshalb im Rahmen meiner Reihe "Ortszeit Deutschland“ meinen Amtssitz von Berlin aus regelmäßig – für ein paar Tage– in unterschiedliche Teile unseres Landes, und zwar in kleinere und mittelgroße Städte, die meistens nicht so sehr im Fokus des Scheinwerferlichtes stehen und über die nicht täglich in den überregionalen Zeitungen berichtet wird, die aber Aufmerksamkeit verdienen. Mir geht es dabei darum, zu hören und zu sehen, was die Menschen vor Ort bewegt, worüber sie sich ärgern, aber auch, was sie gut finden, welche Ideen für Lösungen sie haben – und das im Gespräch mit Gemeindevertretern oder in Betrieben, in Vereinen und Initiativen. Zum Zweiten will ich zeigen, wie wichtig es ist, dass Bürger und politische Amtsträger im direkten, offenen, durchaus kritischen – aber doch respektvollen – Austausch stehen. Das hier ist meine 15. Ortszeit.
Und jedes Mal erfahre ich so viel über das, was das Leben und was die Menschen in unserem Land ausmacht, in ihrer ganzen Vielfalt, mit unterschiedlichen Interessen, unterschiedlichen Schwerpunkten, mit unterschiedlichen Biographien.
Und so habe ich das auch hier in Delitzsch erlebt. Einer Stadt, die – durch Hermann Schulze-Delitzsch – untrennbar mit der Idee der Genossenschaften verbunden ist. Mit einer Idee, die weltweit so nachhaltig wirkt, dass die UNESCO sie zum "Immateriellen Kulturerbe der Menschheit“ erklärt hat. Die Vereinten Nationen haben dieses Jahr, 2025, zum Internationalen Jahr der Genossenschaften ausgerufen. Aus gutem Grund: Schließlich leisten Genossenschaften einen riesigen Beitrag, wenn es darum geht, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und, wo immer es geht, soziale Barrieren zu überwinden.
Als Gründervater des modernen Genossenschaftswesens in Deutschland war Hermann Schulze-Delitzsch selbst Zeitzeuge gewaltiger Umwälzungen. Er konnte mit eigenen Augen sehen, wie das heimische Handwerk und die Landbevölkerung durch die Industrialisierung unter Druck geraten sind. Wie die Not wuchs und ganze Familien in Gefahr kamen, Opfer von Hunger und Verelendung zu werden. Und seine Antwort auf diese Entwicklung, die man damals die Soziale Frage
genannt hat, war sein "Lebensthema“. Das war die Genossenschaftsidee, getragen vom Dreiklang aus Selbsthilfe, Selbstverantwortung, – und das betrifft die Kommunen bis heute – Selbstverwaltung.
Schulze-Delitzsch hatte erkannt: Um allen ein würdiges Dasein zu sichern, braucht es den Willen, sich gegenseitig zu helfen. Genauso wie die Bereitschaft der Einzelnen, aktiv zu werden, aber sich auch zusammenzutun, um gemeinsam Veränderungen zu meistern. Gerade Sie hier in Sachsen haben in den vergangenen Jahrzehnten große Umbrüche bewältigen müssen. Und nicht nur hier in Delitzsch, in vielen Orten, die ich gesehen habe, ist es gelungen, diese Veränderungen sehr erfolgreich zu gestalten. Man kann gar nicht oft genug hervorheben, was in unseren Kommunen, in den letzten mehr als drei Jahrzehnten tatsächlich geleistet wurde.
Eines, das habe ich auch in den letzten Tagen hier in Delitzsch erlebt, ist dafür entscheidend: Engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sich um mehr kümmern als nur sich selbst, die Verantwortung übernehmen. Menschen, die sich freiwillig und ehrenamtlich für andere engagieren. Menschen wie Sie! Dafür darf ich Sie alle heute ehren, und das ist mir eine besondere Freude!
Ihr Engagement ist beeindruckend: Ob Sie Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft helfen, sich mit Musik neue Welten zu erschließen oder sich für die medizinische Versorgung in Ländern des Globalen Südens einsetzen; ob Sie schwerkranken Mädchen und Jungen helfen, besser mit ihrer belastenden Lebenssituation umzugehen; oder sich dafür engagieren, die Erinnerung an Stalinismus und politische Verfolgung in der DDR wach zu halten. Sie alle leisten Herausragendes. Hier in Delitzsch, indem Sie dafür sorgen, dass das Miteinander gelingt. Und in ganz Sachsen, indem Sie Netzwerke und Strukturen mitaufgebaut haben, auf die sich die Arbeit von anderen abstützt; mit Ihrem Einsatz für Menschlichkeit und Verständigung, für Demokratie und gesellschaftliche Vielfalt – auch, für den Sport.
Sie leben Solidarität, Sie übernehmen Verantwortung für ein besseres Hier und Jetzt! Und ich bin mir sicher: Hermann Schulze-Delitzsch würde das ganz besonders gefallen.
Was Sie leisten, ist alles andere als selbstverständlich. Sich einzubringen kostet Zeit, oft geht der persönliche Einsatz zu Lasten von Beruf und Familie. Deshalb will ich heute auch ganz ausdrücklich diejenigen würdigen, die als Partner und Angehörige oder als Kolleginnen und Kollegen Ihnen den Rücken freihalten für Ihr Engagement und Ihnen auf diese Weise helfend beistehen.
Diese Unterstützung ist auch deshalb besonders wertvoll, weil Menschen, die sich einsetzen, selbst zum Ziel von Anfeindungen, manchmal auch Häme werden. Das können und das dürfen wir nicht zulassen in einer Demokratie! Schauen wir nicht gleichgültig weg, wenn so etwas passiert. Solche Angriffe auf die Demokratie gehen uns alle an. Meine Bitte ist aber auch: Lassen Sie sich trotzdem nicht entmutigen! Unsere Demokratie braucht Menschen wie Sie, die sich für andere einsetzen!
Mit großer Freude verleihe ich Ihnen jetzt den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Einsatz – und Ihnen allen schon jetzt meinen herzlichen Glückwunsch!