Namensbeitrag in der Tageszeitung Der Tagesspiegel zur internationalen Impfstrategie in der Corona-Pandemie

Schwerpunktthema: Zeitungsbeitrag

18. November 2020

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat für die Tageszeitung Der Tagesspiegel einen Namensartikel verfasst, der am 18. November erschienen ist: "Deutschland und Europa sollten jetzt ein politisches Signal geben, dass sie bereit sind, von Beginn an einen Teil dieser Kontingente abzugeben, um etwa Gesundheitspersonal auch in ärmeren Ländern der Welt so rasch wie möglich zu schützen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinem Arbeitszimmer (Archivbild)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat einen Namensbeitrag für die Tageszeitung Der Tagesspiegel zur internationalen Impfstrategie in der Corona-Pandemie verfasst, der am 18. November 2020 unter dem Titel Was uns stolz machen könnte erschienen ist:

Die jüngsten Nachrichten des Mainzer Unternehmens Biontech und seines amerikanischen Partners Pfizer, sowie die des US-Konzerns Moderna, sind wahrlich ein Grund zur Freude. Erste Studienergebnisse lassen für beide auf der revolutionären mRNA-Technologie basierten Impfstoffe auf eine Wirksamkeit gegen das Coronavirus von über neunzig Prozent schließen. Wirksamer also, als die meisten Experten es sich von der ersten Generation der Covid-19-Impfstoffe erwarteten. Zugleich machen weitere Impfstoffkandidaten, die auf unterschiedlichen Verfahren der Immunisierung aufbauen, beeindruckende Fortschritte, unter anderem die Tübinger Firma Curevac. Die Zulassung gleich mehrerer Vakzine rückt in greifbare Nähe. Die Produktion von Hunderten Millionen Impfdosen ist schon hochgefahren. Wir können die begründete Hoffnung haben, im kommenden Jahr schrittweise die harten Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie aufheben zu können. Das ist ein Silberstreif am Horizont unserer strapazierten Geduld.

Bis das gelingt, ist aber nicht nur eine enorme logistische und medizinische Herausforderung zu bewältigen, von der Massenproduktion des Impfstoffs über die Verteilung unter anspruchsvollen Bedingungen bis zur fachgerechten Verimpfung. Der vor uns liegende Impfstoffmoment fordert auch die Politik und uns als Bürger. Grundvoraussetzung für den Erfolg einer solchen beispiellosen Impfkampagne ist Verständnis, Vertrauen und Zuversicht bei uns allen. Dennoch, es bleibt ein langer Weg zurück zur Normalität. Es hängt aber auch von unserer Einsicht und Weisheit ab, ob so viele Menschenleben wie möglich gerettet werden können.

Das gilt zuallererst in unserer eigenen Gesellschaft. Wer soll mit welcher Priorität Zugang zum Impfstoff erhalten? Mitglieder der Ständigen Impfkommission, des Deutschen Ethikrates und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina haben dazu Empfehlungen erarbeitet. Vor allem in den ersten Monaten, in denen noch nicht ausreichend Impfdosen für alle zur Verfügung stehen, sollen durch Vorerkrankungen oder Alter gefährdete Risikogruppen sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gesundheitswesens Vorrang haben. Handeln wir danach, dann können viele schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle verhindert werden, dann können wir die Menschen schützen, die arbeitsbedingt einem hohen Risiko ausgesetzt sind. Dahinter steht die Einsicht, dass mit der richtigen Verteilungsstrategie der Impfdosen mehr Menschenleben gerettet werden können als ohne diese Regeln.

Eine noch größere Herausforderung ist es, dieser Einsicht auch auf internationaler Ebene Geltung zu verschaffen. Innerhalb der Europäischen Union haben wir unsere Kräfte und Mittel gebündelt, um unsere Zugriffschancen auf möglichst viele vielversprechende Impfstoffkandidaten zu verbessern. Aber fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Staaten, die nicht über die Mittel verfügen, sich den Herstellern als Vorzugskunden anzudienen. Die Folge wird sein, dass in ärmeren, aber nicht weniger bedürftigen Ländern nur ein geringer Teil der Bevölkerung geimpft werden kann, in reicheren Ländern hingegen ein ungleich größerer Teil.

Im Angesicht des Virus sind wir ohne Zweifel eine Weltgemeinschaft. Covid-19 unterscheidet nicht nach Nationalität oder Hautfarbe. Sind wir aber auch in der Lage, als Weltgemeinschaft eine Antwort zu geben? Dann müssten wir erkennen, dass es in unserem eigenen, aufgeklärten Interesse liegt, wenn zunächst einige Menschen in allen Ländern geimpft werden, und nicht zuerst nur in einigen wenigen Ländern alle Menschen. Das ist nicht allein ein Akt der Solidarität. Eine Pandemie, die im eigenen Land eingedämmt, aber jenseits unserer Grenzen nicht überwunden ist, kostet weiter Menschenleben, kostet aber auch Wohlstand. Von der Gefahr einer Mutation des Virus anderswo, die dann auch uns erneut gefährdet, ganz zu schweigen.

Deutschland und Europa haben schon im Frühjahr wichtige Impulse gegeben, um mit einer internationalen, von der WHO koordinierten Initiative einen weltweit fairen, transparenten und bezahlbaren Zugang zu Impfstoffen sicherzustellen. Bis Ende nächsten Jahres sollen so über 90 Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen zwei Milliarden Impfdosen zur Verfügung gestellt werden. Doch noch haben sich längst nicht alle großen Staaten ihren Möglichkeiten entsprechend an dieser Covax-Initiative beteiligt.

Die Europäische Union hat allein durch die Vertragsunterzeichnung mit Biontech Zugriffsrechte auf bis zu 300 Millionen Impfstoffdosen. Werden weitere Impfstoffe zugelassen und davon ist auszugehen, wird diese Zahl deutlich steigen. Deutschland und Europa sollten jetzt ein politisches Signal geben, dass sie bereit sind, von Beginn an einen Teil dieser Kontingente abzugeben, um etwa Gesundheitspersonal auch in ärmeren Ländern der Welt so rasch wie möglich zu schützen.

Wir können stolz darauf sein, dass dank der bewundernswerten Leistungen von Özlem Türeci und Uğur Şahin und ihrem Team ein entscheidender Beitrag zur Überwindung der Corona-Pandemie aus Deutschland kommen wird. Aber es sollte uns noch stolzer machen, wenn wir die Einsicht und die Weisheit hätten, in dieser Situation der Welt ein Beispiel zu geben. Ein Beispiel für die enge und solidarische Zusammenarbeit innerhalb unserer Europäischen Union. Und ein Beispiel, wie wir Europäer uns eine Welt vorstellen, in der internationale Zusammenarbeit mehr ist als ein Lippenbekenntnis, sondern buchstäblich lebensrettend.

Selten in der Menschheitsgeschichte lagen die lebensrettenden und Wohlstand sichernden Früchte internationaler Zusammenarbeit und die kalten Folgen einer Jeder für sich-Politik so offen zutage und vor uns wie in dieser Covid-19-Pandemie. Wenn wir hier scheitern, wie können wir dann die Zuversicht bewahren, dass wir den Kampf gegen den ungleich komplexeren Klimawandel als Weltgemeinschaft gewinnen können? Umgekehrt aber: Wenn es uns im kommenden Jahr gelingt, Covid-19 gemeinsam und in der ganzen Welt in die Schranken zu weisen, dann dürfen wir mit neuem Optimismus daran gehen, auch auf den menschengemachten Klimawandel eine wirkungsvolle Antwort zu finden. Dass wir in diesen Wochen die begründete Hoffnung haben können, dass die USA unter einem Präsidenten Biden sich einer solchen Initiative anschließen werden, sollte uns ein zusätzlicher Ansporn sein, jetzt das richtige politische Signal zu setzen.