Der Bundespräsident hat einen Beitrag in der Monatszeitschrift Merkur verfasst, der am 25. März unter dem Titel Belastungen und Bewährungen von Freiheit und Demokratie
erschienen ist:
Der Dezember 2019 datiert die historische Zäsur einer beispiellosen Krise. Die Auseinandersetzung mit dem, was sie lehrt und politisch fordert, steht noch am Anfang. Die Geschwindigkeit und globale Reichweite der Corona-Pandemie sind zu einer Belastungsprobe politischer Systeme geworden. Von einem Infektionsfall in einem Ort in China bis zur weltumspannenden Gesundheitskrise gab es kaum sechs Wochen Reaktionszeit. Der Ausbreitungsweg des alltäglichen menschlichen Kontakts mit seinen exponentiell anwachsenden Übertragungen hat sich als zu mächtig erwiesen, um mit den Mitteln eines veränderten Alltagsverhaltens und administrativ verfügter Mobilitäts- und Kontaktrestriktionen die Welle regional einzugrenzen oder irgendeinen Staat abzuschirmen. Auch wenn die Staaten eine unterschiedlich wirksame Steuerungskraft aufgeboten haben, durch geografische Faktoren ungleich begünstigt oder benachteiligt sind und der Verlauf der Ansteckungen unterschiedlich schnell und breit war und ist, es bleibt die dominierende Erfahrung einer Welt, die der Pandemie keine wirksamen physischen Grenzen entgegensetzen kann. Es gibt keinen Damm, der die Welle aufhält.
In der modernen Gesellschaft kann es solche Dämme nicht geben. Die sozialen Verhaltensmuster und kulturellen Konventionen, die den permanenten Austausch mit größeren Gruppen herbeiführen, die dynamisch verflochtenen Produktionsweisen, mit denen wir die wirtschaftlichen Grundlagen hochentwickelter Gesellschaften aufrechterhalten, bilden das pandemische Risiko. Das Tempo der Moderne ist zugleich die Geschwindigkeit der Infektionswelle.
Dazu gehört in hohem Maß der grenzüberschreitende internationale Austausch nicht nur von Gütern, sondern auch von Personen. Dazu gehört auch der intensive Verflechtungsgrad moderner Gesellschaften. Schließlich das auch normativ erwartete Maß an Freizügigkeit und Mobilität, das nicht nur in liberalen, sondern selbst in autoritär regierten Ländern zur täglichen Normalität zählt. Politische Interventionen in diese soziale Lebenswelt treffen auf besondere Schwierigkeiten.
Die Staatenwelt ist durchlässig. Ihre wechselseitige Abhängigkeit, was die Versorgung mit Rohstoffen, Verbrauchsgütern, Medikamenten und Lebensmitteln, auch den wissenschaftlichen Austausch angeht, lässt eine Fundamentalrevision zu einer Politik der Abschottung undenkbar erscheinen. Selbst verschärfte Grenzübertrittsregime bedeuten keine Abschottung, die ein hochinfektiöses Virus aufhalten könnte.
Die Globalisierung lässt sich zwar unterschiedlich stark regulieren, aber nicht revidieren. Jedenfalls nicht zu einem noch vernünftig diskutierbaren Preis. Die Welle lässt sich verlangsamen, und darin liegt die Vernunft politischer Maßnahmen und persönlicher Verhaltensanpassungen. Doch weder innergesellschaftlich noch zwischenstaatlich lassen sich Räume vollständig gegen die Ausbreitung des Virus abschirmen. Die bleibende Erfahrung ist eine nicht nur regionale oder nationale, sondern eine globale pandemische Schicksalsgemeinschaft
.
Damit ist noch nicht die Frage beantwortet, ob auch die Antwort auf die Pandemie einem globalen Bewusstsein folgt und kooperative Wege findet oder ob beispielsweise der Wettlauf um die Produktion und Verteilung eines Impfstoffs eine neue Aufteilung der Welt zur Folge hat. Immerhin kann man darauf setzen, dass alle Staaten aus wohlverstandenem Eigeninteresse eine globale Bekämpfung der Pandemie verfolgen müssten. Denn ein Virus, das sich von Grenzen nicht aufhalten lässt und mutiert zurückkehren kann, ist erst besiegt, wenn es überall besiegt ist.
Alle Gesellschaften und Staaten sind permeabel und darum durch Pandemien verwundbar. Besonders herausgefordert sind jedoch diejenigen Gesellschaften, die ein größtmögliches Maß an Freiheit als Indikator des menschlichen Fortschritts betrachten. Es ist ein Unterschied, ob Mobilität den ökonomischen Interessen eines Machtstaates dient oder ob bürgerliche Freiheit als Verwirklichung unveräußerlicher Menschenrechte die kollektive Identität prägt.
Einbußen bei der Verwirklichung von ökonomischen Interessen berühren die Selbstbehauptungskräfte einer Gesellschaft weniger tief als Verletzungen ihrer normativen Identität. Wachstumsrückgänge können wettgemacht werden, Verletzungen im Selbstbild heilen weniger leicht. Eine freiheitliche Ordnung verlangt nach der individuellen Entfaltung eines jeden in einer selbstbestimmten Form politischer Gemeinschaft. Sie erstreben deshalb die Abwehr von Willkür, Unterdrückung, Ungleichheit und autoritärer Herrschaft. Diese Bestimmung des eigenen Ortes in Gegenwart und Geschichte geht mit dem Anspruch einher, auch anderen Gesellschaften ein Vorbild sein zu können. Wie verarbeitet eine solche politische Gemeinschaft die Herausforderung durch die Pandemie?
Das rechtspopulistische Spektrum innerhalb liberaler Gesellschaften konnte sich erhoffen, durch eine weitere Krise des liberalen Systems weiter zu wachsen. In den drei Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Krieges und dem voreilig beschworenen Triumph des Liberalismus sind neonationalistische, fremdenfeindliche, illiberale politische Bewegungen gewachsen. Take-back-control
-Politiken sollten die Zumutungen der Einwanderung und der kulturellen Pluralisierung ebenso wie die wirtschaftliche Konkurrenz durch offene Märkte und zugewanderte Arbeitskräfte im Zaum halten. Forderungen nach kultureller Hierarchisierung, Migrationsabwehr und ökonomischem Protektionismus verbinden sich dabei mit Vorstellungen von einem starken Staat.
In der Reaktion auf die Corona-Pandemie gab es einen Moment der Orientierungslosigkeit rechtspopulistischer Meinungsführer. Die Kulturalisierung der Gefahr entlang ethnischer Feindbilder (China-Virus
) konnte in Anbetracht der allgemeinen Bedrohung durch das Virus keine breite Wirkung entfalten. Grenzschließungen als klassisches Abwehrinstrument und Notstandsregime bekamen ebenfalls keine für die Bewegung typische und prägende Bedeutung. Stattdessen leugneten sowohl rechtspopulistische Regierungen wie Oppositionelle die Risiken, kritisierten staatliche Restriktionen und mobilisierten in esoterisch-verschwörungsideologischen Randbereichen der Gesellschaft.
Zum Rechtspopulismus gehört immer auch eine kompromisslose Selbstermächtigung. Populistisch aufgeheizter Individualismus bettet sich nicht mehr pluralistisch in unsere Demokratie ein, sondern wendet sich radikal libertär gegen sie. Am Ende erklärt diese Form der Selbstermächtigung in autoritär-militanten Gruppen Gleichgesinnter der rechtsstaatlichen Demokratie den Krieg. In der Reaktion auf die Corona-Pandemie schwächt aber die libertär-populistische Weigerung, die Gefahren ernst zu nehmen und die Gesundheit der Menschen zu schützen, den ideologischen Ankerpunkt der Sicherheit. Daher ist zu vermuten, dass die Pandemie nicht eine neue Mobilisierung des Rechtspopulismus zur Folge haben, sondern eher zu seiner Entzauberung führen wird. Die offenkundige Realität der Pandemie in der Welt lässt die populistischen Weltkonstruktionen der Social-Media-Blasen in sich zusammenfallen.
Libertäre Stimmungsmache verfehlt die Grundemotion der Menschen in der Pandemie, weil sie das Bedürfnis nach Sicherheit ignoriert. Trotzdem bleibt das Problem, wie die liberale Gesellschaft mit dem Sicherheitsbedürfnis umgeht, das ein scheinbar nicht aufzuhaltendes Virus aktiviert. Es ist eine Lehre nicht erst der Corona-Krise, sondern zuvor schon der eruptiven und disruptiven Umbrüche der Ära beschleunigter Globalisierung, dass die Freiheit zu ihrem Schutz einer Ordnung bedarf. Diese Ordnung findet ihre Gestalt in den freiheitsermöglichenden Infrastrukturen der Daseinsvorsorge ebenso wie in den rechtsstaatlichen Institutionen, die den Grundrechten Geltung verschaffen und sie im regelmäßigen Konfliktfall zu einem Ausgleich bringen. Dieser Ordnung entsprechen Regeln der Pandemiebekämpfung, die für alle gleich gelten und den Anspruch vernünftiger Beschränkungen aus Gründen des Schutzes und der Sicherheit aller geltend machen können.
Dass eine freiheitliche Gesellschaft das Bedürfnis nach Sicherheit nicht ignorieren kann, dass sie eines sozialen Rechtsstaates bedarf, der Regeln setzt und durchsetzt und darin Vertrauen verdient, dass sie eine Haltung und eine soziale Infrastruktur von bürgerschaftlicher Gemeinschaft benötigt, die den Zusammenhalt ermöglicht, diese Lehre nicht nur aus dieser aktuellsten Krise kann als eine Selbstaufklärung des Liberalismus über die Bedingungen seiner Zukunftsfähigkeit gekennzeichnet werden. Eine Selbstbehauptung der liberalen Moderne – in einem unvollendeten, ja unvollendbaren Prozess – setzt die Bereitschaft zur Selbstüberprüfung voraus.
Reibungs- und frustrationslos ist diese Selbstaufklärung nicht zu haben. Die Einsicht, dass das ruhelose, besinnungslose, immer raschere und ungeduldigere Ausschöpfen aller technologisch ermöglichten Aktivitäten, aller Mobilitätsmöglichkeiten im globalen Maßstab, aller stetig erweiterten Konsumoptionen die Emanzipation des Menschen nicht mehr voranbringt, sondern die Lebensgrundlagen der ihn umgebenden Gesellschaften erschüttern kann, diese Einsicht stellt manches, was uns seit Langem selbstverständlich scheint, in Frage. Insofern ist es ein anspruchsvoller Gedanke, eine Beschleunigungs- und Risikogesellschaft könne aus sich selbst heraus das Tempo reduzieren. Die Corona-Pandemie stellt nicht nur die Politik, sondern auch die privaten Lebensweisen in der liberalen Moderne auf den Prüfstand. Die daraus resultierende Spannung bleibt bestehen, auch wenn der Impfstoff die Gesellschaft gegen Covid-19 immunisiert. Denn dass eine solche Pandemie möglich war, bedeutet, dass sie jederzeit wieder möglich sein kann.
Die Herausforderung der Demokratie unter dem Druck der Pandemie besteht nicht vorwiegend darin, Mehrheiten hinter der Regelsetzung und dem Durchsetzungsanspruch des Staates zu versammeln. Der Eindruck gefährdeter Mehrheiten mag entstehen, wenn als Folge des Lockdowns der Straßenprotest von ökonomisch Betroffenen oder von libertären Populisten vor Augen steht. Die Rücksichtslosigkeit jedoch, mit der Letztere die Hygieneregeln provokativ missachten und die Infektionsgefahr verleugnen, stößt die überwiegende Zahl der Bürger ab. In Deutschland bleibt dieser Protest daher in der Minderheit gegen die 70 bis 90 Prozent, die hinter einer Politik des Gesundheitsschutzes stehen. Dieses Bild ist auch nach mehr als einem Jahr Corona-Krise stabil.
Die Bewährungsproben finden sich vielmehr dem Mehrheitswillen vorgelagert. Sie betreffen die diskursiven Grundlagen. Die Demokratie ist in ihrer freiheitlichen und bürgerrechtlich verfassten Gestalt eine stetig debattierende, kritisierende, prüfende, in Frage stellende, demonstrierende und vor Gerichten klagende Form der Politik. Sie verflüssigt ihre Meinungsbildung in einem nie stillstehenden Prozess, der jede zur Entscheidung geronnene Haltung wieder zweifelnd auszuspülen beginnt. Sie hält sich die Gleichheit der Chance eines jeden, beteiligt zu sein und Gehör zu finden, als Fortschritt zugute und weitet partizipative Räume immer noch weiter aus. Dies gilt in der Tendenz sowohl für die öffentliche Meinung, die heute im Digitalraum unüberschaubare Kanäle, Bühnen und Resonanzen findet, für die zivilgesellschaftlichen Organisationen, Foren, Plattformen und für die politischen Parteien wie auch für die repräsentativen parlamentarischen Verfahren, und zwar immer dort, wo Entscheidungen kleinerer Führungszirkel inzwischen als verpönt gelten. Die liberale Demokratie macht sich Umstände. Und weil sie es tun muss, um den eigenen egalitären Teilhabeansprüchen Genüge zu tun, braucht sie Zeit.
Die Zeitbedürfnisse vielfacher demokratischer Beteiligung werden fragwürdig in dem Maß, in dem eine pandemische Welle erhöhte Reaktionsgeschwindigkeit fordert. Die Demokratie ist gezwungen, exekutiven Handlungen Vorzüge einzuräumen, die selbst bei jenen politischen Akteuren Reizbarkeit zur Folge haben, die in der Sache einverstanden sind. Im Primat der Exekutive scheint die Demokratie nicht bei sich selbst zu sein. Es rumort in ihr. Pandemiebekämpfung ist aber typischerweise keine Gesetzgebung, sondern Gesetzesanwendung, mithin Regierungs- und Verwaltungsauftrag. Dies ist schwer hinzunehmen. Und doch notwendig, um den Lauf der Infektionen verlangsamen zu können. Die debattierende muss immer auch eine entscheidende und handelnde Demokratie sein.
Die Befürchtungen eines Demokratiedefizits, wo zeitkritisch entschieden und gehandelt wird, werden verstärkt durch die pandemiebedingte Verengung oder gar Schließung öffentlicher Räume, in denen die debattierende Demokratie normalerweise eingebettet ist. Hier ist sie ihres Ortes beraubt – und Demokratie braucht einen Ort. Physische Kontakte zu reduzieren ist ein Gebot der Infektionsbekämpfung. Begegnungen zu vermeiden ist aber zugleich eine Belastung der Demokratie. Denn als Bürgergesellschaft wollen wir uns anstecken
lassen – von Ideen, Argumenten, Erfahrungen, Meinungen und Haltungen anderer.
Die Demokratie darf auch in der Pandemie-Krise nicht die Form des Anordnungsstaates annehmen. Das gilt auch für andere drängende Felder der aktiven Zukunftsgestaltung unter Zeitdruck – die Klimapolitik vorneweg. Die Demokratie bewährt sich vielmehr, indem sie möglichst viele Räume der Debatte offenhält. Physisch, indem Demonstrationen bei aller Vorsicht möglich bleiben, indem Willensbildungen in den Parteien nicht suspendiert, sondern in neue Formate überführt werden, indem kulturelle Kreativität nicht erstickt wird, sondern im kleineren Rahmen möglichst vielfältig erhalten bleibt.
Offenhalten der Demokratie ist aber auch eine ideelle Haltung: Demokratische Politik tut gut daran, Kritik an der Regierung in der Krise nicht als illegitim in Verruf zu bringen. Zum Appell an die Vernunft der Bürger sollte der Respekt für ihre Eigenwilligkeit gehören. Denn die Meinungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger prüft und fordert umgekehrt immer neu die Vernunft der Regierung. Sie begleitet die wissenschaftliche Lösungssuche, fordert Transparenz und Offenlegung von Erwägungsgründen für restriktive Maßnahmen, fordert ihre Verhältnismäßigkeit, weist auf inkonsistente Begründungen hin und fordert nicht zuletzt Ausgleich und Hilfe für besonders hart betroffene Gruppen ein. Einen letzten Beweis dafür gibt es nicht, aber plausibel ist es doch, dass es gerade jetzt die offene Gesellschaft ist, die sich unter den Zumutungen der Ungewissheit in dieser Krise als lernfähig erweist.
Zu den gesicherten Erkenntnissen zählt, dass die Virus-Pandemie kein Gleichmacher ist. Sie trifft alle, aber nicht alle gleich. Vielmehr verstärkt sie die bestehenden sozialen Prekaritäten und Ungleichheiten. Riskante und belastende Arbeit wird riskanter und belastender. Soloselbständige mit unsteten Einkünften verlieren die Erwerbsquellen. Bildungsnachteile werden bei geschlossenen Schulen größer. Beengte Wohnverhältnisse werden unter dem Gebot, zuhause zu bleiben, noch enger und bedrückender – häusliche Gewalt nimmt zu. Soziale Isolation von Älteren wird zu existenzieller Einsamkeit. Auf der Karte der Infektionsdynamik mögen ganze Regionen rot gefärbt sein, aber die wahren Betroffenheiten der Menschen unterscheiden sich schon von Wohnung zu Wohnung, von Viertel zu Viertel. Unter den Bewährungsproben der Demokratie sind die Gerechtigkeit bei der Pandemiebewältigung und der Zusammenhalt der Gesellschaft nicht die geringsten.
Die Zumutungen der Pandemie belasten und prüfen Freiheit und Demokratie. Sie bestimmen die individuelle Wahrnehmung und öffentliche Debatte unserer Tage. Sie können aber den seit Längerem heraufziehenden Weltkonflikt nicht verdrängen, der durch die Pandemie nicht erledigt sein, sondern eher stärker akzentuiert werden wird. Die bis zur Jahrtausendwende fortschreitende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen wird herausgefordert und womöglich abgelöst durch erneuerte Machtkonkurrenz. Der Hegemonieverlust der Vereinigten Staaten, halb erlitten, halb selbstgewählt, lässt hinter der pandemischen Schicksalsgemeinschaft
des Augenblicks die Konturen des Systemkonflikts der Zukunft hervortreten. Die Pandemie wird zu diesem wesentlich durch den wirtschaftlichen Aufstieg und die autoritäre Verhärtung Chinas getriebenen Konflikt kein abschließendes Urteil fällen, sondern konkurrierende Narrative noch verstärken.
Formuliert man die Herausforderungen der Freiheit im Sinne dieses Systemwettbewerbs, so lässt sich zwar nicht pauschal behaupten, liberale Demokratien wiesen sämtlich eine bessere Bilanz bei der Pandemiebewältigung auf als autoritäre Regime. Doch ein systembedingter Vorteil von zentralistischen Kommando- und Überwachungsstaaten ist ebenfalls nicht erkennbar. Das gilt sowohl für die Infektionskontrolle wie für die Impfstoffentwicklung. Vorerst schlagen sich freiheitliche Gesellschaften achtbar. Jedenfalls diejenigen, die über funktionierende staatliche Institutionen – und das heißt auch über eine Kultur des Institutionenvertrauens – verfügen und deren Regierungen überdies bereit sind, die Pandemie als Gefahr ernst zu nehmen.
Am Ausgang der Pandemie wird auch der relative Gewinn oder Verlust an wirtschaftlicher Stärke, handelspolitischem Einfluss und politisch-kultureller Prägekraft zwischen den großen Wirtschaftsräumen USA, Europa und China taxiert werden. Welches System dabei mit Blick auf die Zukunft die größere Attraktivität entfalten kann, entscheidet sich wesentlich an der Frage, welchen Gewinn und Nutzen die Menschen außerhalb der je eigenen Grenzen daraus ziehen oder sich versprechen. Ein amerikanisches, europäisches oder chinesisches Modell
darf, wenn es Vorbild sein will, nicht nur für Amerikaner, Europäer oder Chinesen funktionieren. Freiheitliche Ordnungen, deren Politik keiner nationalegoistischen Engführung oder geopolitischen Dominanz folgt, sind in diesem Sinne durch autoritären Machtzuwachs noch keineswegs geschlagen.
Gelingt es den Demokratien, einen fairen und gleichberechtigten Zugang der Staatengemeinschaft zu neu entwickelten Therapien und Impfstoffen zu organisieren, dann wird dieses Signal einer tatsächlich als Weltgemeinschaft gegebenen Antwort weit über die Pandemie hinaus beispielgebend und wirkmächtig sein. Die gern und oft als universell proklamierten normativen Maßstäbe demokratischen Handelns würden an Glaubwürdigkeit und Strahlkraft gewinnen. Gegen den geopolitisch instrumentalisierten Impfstoffzugang à la Moskau und Peking könnten Deutschland, Europa und die Demokratien der Welt so eigenen Wertvorstellungen und geopolitischen Interessen gleichermaßen Geltung verschaffen.
Und doch wird die Pandemie nur eine Etappe in jenem Konflikt sein, der sich gegenwärtig entfaltet und in dem sich die innere Kraft wie die äußere Selbstbehauptung der Demokratie von neuem werden beweisen müssen. Auch Konfrontation wird die bestimmende Kategorie politischer, wirtschaftlicher, kultureller und technologischer Konkurrenz sein. Darauf müssen sich Europa und die demokratische Welt illusionslos einstellen. Aus einer Position der machtpolitischen Schwäche werden sie weder eigene Interessen noch allgemeine Werte geltend machen können. Ein Neuanfang in zuverlässiger Partnerschaft, wie er mit dem Amtsantritt von US-Präsident Biden möglich geworden ist, wäre nicht zuletzt ein Signal liberaler Handlungsmacht im Systemkonflikt.
Die Demokratie muss sich nicht nur zuhause bewähren, sondern auch im Wettbewerb und in der Kooperation mit dem vermeintlich Unvereinbaren. Wir sind zur globalen Risikogemeinschaft geworden. Das verlangt von uns zweierlei gleichzeitig: für das Überleben die Fähigkeit zur praktischen Verständigung über alle Differenzen hinweg, für die Zukunft die Zuversicht, dass auch normative Verständigung von neuem möglich wird.
Die Vorstellung einer erneuten normativen Verständigung im Weltmaßstab wie der, die es nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gegeben hat, mag Erwartungen wecken, die in kurzer Frist nicht erfüllbar sind. Im Horizont unseres Handelns sollte sie gleichwohl bleiben, und sei es als regulative Idee. Zwingend brauchen wir ein kooperatives Minimum, das sich bestimmt durch die historisch grundierte Einsicht, Schlimmeres und Schlimmstes verhindern zu müssen – einen bewaffneten Großkonflikt mit den technologischen Mitteln des 21. Jahrhunderts – und zugleich nur gemeinsam bestehen zu können angesichts der ungekannten planetarischen Herausforderungen des Anthropozän, wie sie im pandemischen Risiko und im menschengemachten Klimawandel zum Ausdruck kommen.