Namensbeitrag in der Tageszeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung zum Erscheinen des Buches "Wegbereiter der deutschen Demokratie: 30 mutige Frauen und Männer 1789-1918"

Schwerpunktthema: Zeitungsbeitrag

21. Oktober 2021

Der Bundespräsident hat am 21. Oktober einen Beitrag in der F.A.Z. veröffentlicht: "Die Geschichte unserer Demokratie und ihre Protagonisten sollten ein selbstverständlicher Teil unserer Gedenkkultur, unserer republikanischen Tradition werden. Demokratie kennt keine ewigen Wahrheiten. Es sind der Pluralismus, die Vielfalt der Meinungen, Rede und Gegenrede, Versuch und Fehler, Wahl und Abwahl, welche die Demokratie immer wieder befähigen, die Herausforderungen der Zeit zu meistern."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinem Arbeitszimmer (Archivbild)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 21. Oktober einen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht, der unter dem Titel Ehrt mir die Demokraten erschienen ist. Bei dem Text handelt es sich um das leicht gekürzte Vorwort des Bundespräsidenten zu dem von ihm herausgegebenen Buch Wegbereiter der deutschen Demokratie: 30 mutige Frauen und Männer 1789–1918.


Ich sterbe für die Freiheit, möge das Vaterland meiner eingedenk sein – das, so will es die Überlieferung, waren die letzten Worte von Robert Blum. Am 9. November 1848 trafen ihn die Kugeln eines Hinrichtungskommandos des kaiserlichen Militärs. Der deutsche Demokrat und Freiheitskämpfer, einer der bekanntesten Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, starb auf einem Sandhaufen im Wiener Vorort Brigittenau.

Robert Blum starb für die Freiheit – aber seiner eingedenk ist heute fast niemand mehr. Der Schriftsteller Ludwig Pfau, auch er ein kaum noch genannter deutscher Revolutionär, schrieb über Blum: Sein Volk wird ihm ein Denkmal setzen, größer als die Denkmale aller seiner Gefeierten; denn dieses Denkmal wird die deutsche Republik sein. Heute müssen wir feststellen, dass diese Prophezeiung sich nur zur Hälfte bewahrheitet hat. Die deutsche Republik, in Recht und Freiheit geeint, ist 1990 Wirklichkeit geworden, zum zweiten Mal nach 1918. Aber wer Robert Blum war und was er mit dieser Republik zu tun hat, das ist heute kaum noch jemandem bewusst.

Menschenrechte und Demokratie, Rechtsstaat und Pluralismus, Gleichberechtigung und sozialer Ausgleich – alle diese Werte, die heute im Grundgesetz verankert sind und die wir leben, verdanken wir auch dem Engagement von Menschen, die früher als andere und oft mit viel Mut und unter großen persönlichen Opfern für sie eingetreten sind.

Doch viel zu lange ist unsere Erinnerungskultur mit den Köpfen, Ereignissen und Orten der deutschen Demokratiegeschichte sehr stiefmütterlich umgegangen. Bedeutende Akteure wie Robert Blum sind oft nur noch dem Namen nach oder gar als bloßes Zerrbild bekannt, wie etwa der republikanische Aufklärer Adolph Knigge, der im kollektiven Gedächtnis zu einem Benimm-Lehrer degradiert worden ist.

Der 18. März ist mit Fixpunkten deutscher Demokratiegeschichte in drei Jahrhunderten verbunden: der Ausrufung der Mainzer Republik 1793, der Revolution 1848 in Berlin und der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR 1990. Trotzdem ist der 18. März nie ein nationaler Gedenktag geworden.

Das Hambacher Schloss war lange vor allem Event-Location und Kulisse für Hochzeiten. Und die Frankfurter Paulskirche, eine der bedeutendsten Stätten der deutschen Demokratiegeschichte, wird den Ansprüchen, die wir heute an einen ebenso würdigen wie lebendigen Erinnerungs- und Lernort der Demokratie stellen, nicht gerecht.

Die geringe Wertschätzung für unsere Demokratiegeschichte liegt freilich nicht etwa daran, dass die deutsche Erinnerungskultur heute stark von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geprägt ist. Im Gegenteil. Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen bleibt ein unverzichtbarer Teil demokratischer Selbstbesinnung. Die Gründe liegen vielmehr weiter zurück und sind gerade in jenen historischen Entwicklungssträngen zu finden, die maßgeblich zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt haben.

Nach der Reichsgründung 1871 dominierte eine national-borussische Geschichtsschreibung, welche die deutsche Geschichte auf das Streben nach staatlicher Einheit reduzierte, das Preußentum heroisierte und Otto von Bismarck zum genialen Erfüller nationaler Sehnsüchte verklärte.

Statt an Freiheitsbewegungen erinnerte man an die Befreiungskriege gegen Napoleon. Damit wurde nicht nur der Grundstein zur nationalistischen Ideologie einer Erbfeindschaft mit dem französischen Nachbarn gelegt, sondern auch die positive Seite des Freiheitsbegriffs, die Freiheit zu bürgerlicher Selbstbestimmung, ausgeblendet. Die Ideen der Französischen Revolution von 1789 wurden schon im Ursprung des deutschen Nationalismus als westlich und undeutsch abgelehnt. Die deutsche Antwort auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Quintessenz der westlichen Demokratie, lautete, verkürzt gesagt, Ordnung, Zucht und Innerlichkeit, so hat Heinrich August Winkler es treffend auf den Punkt gebracht.

Der Reichsgründer Bismarck hatte mit seiner Verachtung für die deliberative Demokratie, also für Meinungskampf, Parlamente und Mehrheitsentscheide, nie hinter dem Berg gehalten: Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der Fehler von 1848 und 1849 gewesen –, sondern durch Eisen und Blut. So lautete sein verstörend einflussreiches Credo, dessen Echo bis in den totalitären Staat des 20. Jahrhunderts hörbar blieb.

Unter diesem Vorzeichen ließen sich die demokratische Revolution von 1848 /49 und die Nationalversammlung der Paulskirche leicht mit dem Verdikt gescheitert versehen und selbst epochale Leistungen wie die in Frankfurt entworfene und verabschiedete Verfassung mit den Grundrechten des deutschen Volkes ignorieren. So entstanden zwar zahllose Bismarck-Denkmäler und Kaiser-Wilhelm-Monumente, wenn aber Demokraten auf dem Friedhof der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain der Freiheitskämpfer des Jahres 1848 gedachten, ließ die preußische Polizei jede Kranzschleife durch ihre Gendarmen genau kontrollieren – aus Furcht vor zu viel aktiver Erinnerung an Freiheit, Demokratie und Revolution.

Die Weimarer Republik knüpfte mit ihrer Verfassung an die liberaldemokratischen Ideen von 1848 /49 an und stellte sich auch symbolisch in die Tradition der Freiheitsbewegungen: Schwarz-Rot-Gold, die deutsche Trikolore der Freiheit vom Hambacher Fest 1832, wurde Nationalflagge. Diese demokratische Traditionsbildung hat vielfach Feindschaft auf sich gezogen. Denn zur fortdauernden Dominanz der national-borussischen Geschichtsschreibung von rechts kam das antiliberale Denken von links. Der beißende Spott und die höhnische Verachtung der bürgerlichen Freiheiten im Gefolge von Karl Marx sind nicht zu unterschätzen, etwa wenn Rosa Luxemburg gegen kleinbürgerliche Illusionisten und Schwätzer von Anno 1848 agitierte.

Selbst nach 1945, nach Diktatur, Weltkrieg und Völkermord, wirkte die eingeübte Ignoranz gegen die Freiheits- und Demokratiegeschichte fort. Die einen sahen im Nationalsozialismus nur einen Betriebsunfall der deutschen Geschichte, der seine Ursache just in der modernen, mit der Französischen Revolution beginnenden demokratisch verfassten Massengesellschaft gehabt haben soll. Andere sahen die Gründe für Hitler und Holocaust vor allem im Fehlen proletarischer Revolutionen in Deutschland. Gemeinsam war beiden Deutungen, dass sie die freiheitlichen Bewegungen in der deutschen Geschichte geringschätzten.

Es war einer meiner Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten, Gustav Heinemann, der Anfang der siebziger Jahre mit Leidenschaft dafür warb, in der Geschichte unseres Volkes nach jenen Kräften zu spüren und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die dafür gelebt und gekämpft haben, damit das deutsche Volk politisch mündig und moralisch verantwortlich sein Leben und seine Ordnung selbst gestalten kann. Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, den Heinemann als Preis für die Schuljugend zum Verständnis deutscher Freiheitsbewegungen ins Leben rief, und die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt sind bleibende Resultate seines Engagements. Aber es wurde – und zwar aus guten Gründen – von einem anderen drängenden Thema überlagert: der notwendigen und viel zu lange verweigerten Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen.

Heute ist unsere Erinnerungskultur maßgeblich geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, seinen Tätern, Mitläufern und seiner Ideologie, sowie von der Erinnerung an die Millionen Opfer. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis zunächst, kaum wahrgenommen, Bundespräsident Walter Scheel, dann vor allem Richard von Weizsäcker an den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung erinnern konnte. Diese Verzögerung ist kein Zufall. Denn 1945 hatte Deutschlands Befreiung von außen kommen müssen. Noch lange Zeit danach empfanden große Teile der Nachkriegsgesellschaft das Datum vor allem als Niederlage und Unglück. Erst in dem Maße, in dem das Verdrängen und Beschweigen der deutschen Verbrechen beendet wurde, konnte der Befreiung von außen eine innere Befreiung im Zeichen neu verwurzelter demokratischer Überzeugungen folgen. Es war ein langer, mühsamer und oft schmerzhafter Prozess der Aufklärung und Aufarbeitung von Mittäterschaft und Mitwisserschaft.

Erst dadurch konnte die Bundesrepublik Deutschland demokratisches Selbstvertrauen gewinnen, nicht durch Abwehr und Schlussstrich. Die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen der Shoah ist so zu einem unverrückbaren Teil unserer freiheitlichen demokratischen Identität geworden – und muss es bleiben. Was sich nicht wiederholen soll, darf auch nicht vergessen werden.

Dieser Zusammenhang von Demokratisierung und Aufarbeitung der NS-Zeit erklärt auch, warum sich unsere Republik nicht allein aus dem Nie wieder! begründen lässt. Es braucht vielmehr ein Bewusstsein für die weitverzweigten Wurzeln von Demokratie- und Freiheitsbestrebungen, die es über Jahrhunderte hinweg gegeben hat und aus denen die Bundesrepublik nach 1945 wachsen konnte. Es stimmt: Das Grundgesetz entstand unter dem Eindruck des Zivilisationsbruchs, unter dem Eindruck von Auschwitz, Babyn Jar und Treblinka.

Der Neuanfang nach der Befreiung 1945 wäre aber gar nicht denkbar gewesen ohne die Erfahrungen aus der ersten deutschen Republik und den Kämpfen des neunzehnten Jahrhunderts. Natürlich war diese Demokratiegeschichte alles andere als eine geradlinige Erfolgsgeschichte. Sie war voller Rückschläge und Widersprüche, voller Um- und auch mancher Abwege. Wir können dennoch stolz sein auf die Kämpfe für Freiheit und Demokratie. Es waren auch diese Ideale, die den Widerstand gegen den Nationalsozialismus prägten. In ihrem Geist werden wir den Blick in den Abgrund der Shoah nicht vermeiden.

All die deutschen Parteigänger der Französischen Revolution, die Vormärzliberalen und -demokraten, Paulskirchendeputierten, die Streiterinnen für die Gleichberechtigung, frühe Gewerkschafter und die engagierten Parlamentarier des Kaiserreiches, alle diese zu ihrer Zeit oft genug Erfolglosen und Besiegten finden wir heute auf der Siegerseite der Geschichte. Nicht die autoritären Kräfte und Mächte, sondern sie haben sich mit ihren Vorstellungen von Freiheit, Recht und Einigkeit durchgesetzt. Daher hat die Erinnerung an sie heute eine doppelte Bedeutung: Sie stiftet Zusammenhalt, und sie stärkt unsere Demokratie. Wir alle haben ein tiefes Bedürfnis nach Heimat, Zusammenhalt und Orientierung. Der Blick auf die eigene Geschichte spielt dabei eine entscheidende Rolle. Jedes Volk sucht Sinn und Verbundenheit in seiner Geschichte – warum sollte das für uns Deutsche nicht gelten?

Es geht hier allerdings um weit mehr als nur um Zugehörigkeit. Es geht auch um das europäische Erbe und die Zukunft unserer Demokratie. Indem wir uns wieder stärker der Freiheits- und Demokratiebewegungen des neunzehnten Jahrhunderts erinnern, nehmen wir auch jene Fäden auf, die uns einst mit unseren europäischen Nachbarn verbanden und die 1871 gekappt worden sind. Die Mainzer Republik, das Hambacher Fest, die Revolution 1848 – all das waren keine rein nationalen Ereignisse. In vielen Ländern Europas wagten damals Menschen den Aufstand für politische Freiheit, für nationale Selbstbestimmung und auch für soziale Gerechtigkeit. Nicht überall waren die Revolutionen unmittelbar erfolgreich – Scheitern und Rückschläge gab es keineswegs nur in Deutschland. Diese Ereignisse waren Teil eines europäischen Völkerfrühlings, der uns mit unseren Nachbarn in Frankreich und Polen, Ungarn und Italien verbindet. Genauso, wie auch 1989 eine europäische Freiheitsrevolution war, die uns Deutsche mit Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken verbunden hat und in deren Folge die Spaltung Europas überwunden werden konnte. Wir tun gut daran, uns gerade heute dieser Ideale und unserer Gemeinsamkeiten wieder stärker zu besinnen.

Aber die Besinnung auf die Geschichte soll keineswegs den Status quo konservieren. Es geht auch darum, die Energien, die Leidenschaften zu wecken, die wir brauchen, um Staat und Gesellschaft so fortzuentwickeln, dass wir unsere Werte bewahren können. Die Erinnerung ist kein Selbstzweck, sondern um der Zukunft unserer Demokratie willen wichtig. Mehr Aufmerksamkeit, mehr Herzblut und mehr finanzielle Mittel den Orten und Protagonisten der deutschen Demokratiegeschichte – diesen Appell habe ich am 9. November 2018 vor dem Deutschen Bundestag an Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik gerichtet, und in den vergangenen Jahren ist manches in Bewegung geraten.

Die Mainzer Republik etwa, die 1793 erstmals auf deutschem Boden das freie Volk zum einzigen rechtmäßigen Souverän erklärte, würdigte der rheinland-pfälzische Landtag zu ihrem 225. Jubiläum mit einem großen Festakt. Für das Hambacher Schloss hat der Bund mehr Geld bereitgestellt und ermöglicht erstmals eine kontinuierliche historisch-politische Bildungsarbeit. Der Friedhof der Märzgefallenen in Berlin bekommt in den nächsten Jahren ein Besucherzentrum und wird zu einer modernen Erinnerungsstätte. Und die sanierungsbedürftige Frankfurter Paulskirche soll zu einem zeitgemäßen, lebendigen Lernort der Demokratie weiterentwickelt werden, darauf haben sich der Bund, das Land Hessen und die Stadt Frankfurt am Main im Sommer 2020 im Schloss Bellevue verständigt.

Auch auf das Kaiserreich blicken wir 150 Jahre nach dessen Gründung inzwischen differenzierter. Sein Nationalismus und sein Militarismus werden seit Langem kritisch gesehen; der Kolonialismus und seine Verbrechen werfen deutliche Schatten auf diese Epoche und verlangen mehr Aufmerksamkeit. Aber wir entdecken auch, dass es in diesem Obrigkeitsstaat zum Beispiel eine aktive Frauenbewegung gab. Und war es nicht eine List der Geschichte, dass der Demokratieverächter Bismarck, der das allgemeine Männerwahlrecht zumindest im Reich (nicht in Preußen) aus rein taktischen Motiven zuließ, damit Raum für die demokratische Arbeiterbewegung, die Herausbildung des Parteiensystems und die Entstehung einer parlamentarischen Tradition in Deutschland schuf? Auch sollte man die Bedeutung des 1871 in Berlin geschaffenen Reichstages als öffentliche Bühne der Politik nicht unterschätzen.

Die größten Defizite unserer demokratischen Erinnerungskultur bestehen noch immer im Hinblick auf die Protagonisten des sogenannten langen neunzehnten Jahrhunderts, also der Zeit von der Französischen Revolution 1789 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs.

Den Begriff der Demokratie muss man beim Blick auf verschiedene Epochen weit fassen. Es wäre geschichtsblind zu erwarten, dass schon im neunzehnten Jahrhundert die Menschen exakt jenes Verständnis von freiheitlicher Demokratie, Gleichberechtigung und sozialem Ausgleich hatten, wie wir es heute teilen. Kaum einer der hier Porträtierten hat diese Werte unserem heutigen Verständnis nach vollständig verfochten, aber alle haben sie mit ihrem Wirken letztlich zur Durchsetzung jener Werte beigetragen. Diese Frauen und Männer waren Wegbereiter der Demokratie, Wegbereiter unserer Republik.

Die Durchsetzung der Demokratie in Deutschland war nicht frei von Widersprüchen. So zeigte sich während der Mainzer Republik, dass auch die Toleranz der Aufklärer ihre Grenzen hatte, und die Idee der Nation diente 1848 nicht nur zur Fundierung eines demokratischen Staates, sondern wurde auch zur Quelle eines aggressiven Nationalismus.

Eine unmittelbare Erfolgsgeschichte war die Demokratie in Deutschland lange Zeit nicht. Die Erinnerung an ihre Wegbereiter taugt deshalb nicht dazu, die tief gründenden Wurzeln des Autoritären und nicht zuletzt des mörderischen Antisemitismus, die im zwanzigsten Jahrhundert so fatale Folgen zeitigten, zu relativieren. Wer dies versucht, begibt sich auf einen Holzweg. Aber die historischen Rückschläge für die Demokratie mindern nicht den Wert demokratischer Ideale und unsere Wertschätzung für all jene, die für diese Ideale früher als andere und oft mit großem Mut und unter hohen Opfern eingetreten sind.

Es kommt mir darauf an, sowohl jene wieder ins Licht zu rücken, die viel zu lange zu Unrecht vergessen gemacht worden sind, als auch anderen erstmals die verdiente Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dazu gehören vor allem auch die Frauen. Zwar war ihnen bis 1908 das politische Engagement in Preußen verboten, doch viele mehr von ihnen waren politisch aktiv, als bekannt ist.

Die Geschichte unserer Demokratie und ihre Protagonisten sollten ein selbstverständlicher Teil unserer Gedenkkultur, unserer republikanischen Tradition werden. Demokratie kennt keine ewigen Wahrheiten. Es sind der Pluralismus, die Vielfalt der Meinungen, Rede und Gegenrede, Versuch und Fehler, Wahl und Abwahl, welche die Demokratie immer wieder befähigen, die Herausforderungen der Zeit zu meistern. Digitale Revolution, Klimawandel, ökonomische Globalisierung und gerechte Teilhabe am Wohlstand – dies und vieles mehr erfordert heute neue Kraft und neue Ideen. Robert Blum schrieb einmal: Es hätte überhaupt nichts Gutes und Großes gegeben, wenn jeder stets gedacht hätte: Du änderst doch nichts!

Der Blick zurück zeigt uns, was Einzelne und ihre Ideen vermögen, die auf der Höhe der Zeit sind. Das macht Mut für die Zukunft, und auch darin liegt der große Wert einer lebendigen Demokratiegeschichte.