Beitrag in der Tageszeitung Die Welt zum 90. Jahrestag der Billigung des Ermächtigungsgesetzes

Schwerpunktthema: Zeitungsbeitrag

23. März 2023

Zum 90. Jahrestag der Billigung des Ermächtigungsgesetzes am 23. März schreibt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einem Beitrag für die Tageszeitung Die Welt: "Dieses Datum müssen wir kennen. Diese Geschichte geht uns etwas an [...] Der Blick zurück zeigt, was Demokratien auch heute bedroht: Sind die Verächter der Demokratie erst einmal in Schlüsselstellen des Staates gerückt, missbrauchen sie dessen Machtmittel zur Zerstörung der Demokratie."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinem Arbeitszimmer (Archivbild)

Zum 90. Jahrestag der Billigung des Ermächtigungsgesetzes durch den Deutschen Reichstag hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einen Beitrag für die Tageszeitung Die Welt verfasst, der am 23. März unter dem Titel "Wie 1933 unsere Demokratie starb – und was wir daraus lernen müssen" erschienen ist.


Es war der Totenschein der ersten deutschen Demokratie: das sogenannte Ermächtigungsgesetz, das der Reichstag heute vor 90 Jahren beschloss. Mit diesem Gesetz wurde aus der Weimarer Republik scheinbar legal die Diktatur Adolf Hitlers. Dieses Datum müssen wir kennen. Diese Geschichte geht uns etwas an. Denn heute erleben wir wieder in vielen Teilen der Welt, wie Demokratien zerstört werden, wie gewählte Politiker nach autoritärer Macht streben, wie Justiz und Presse angegriffen und die Checks and Balances ausgehebelt werden, wie Hass die politische Kultur vergiftet. Auch in unserem Land sind wir vor Erschütterungen der Demokratie nicht gefeit.

Es beginnt mit einer Politik der Lügen. In der Weimarer Republik war es die Dolchstoßlegende. Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg war durch die Eliten des Kaiserreichs verschuldet worden. Statt zur Besinnung zu kommen, erfanden sie die Lüge vom Verrat durch Demokraten, Juden und Liberale an der Heimatfront. Nationalisten und Revanchisten sperrten sich gegen die Realität und riefen auf zum Mord an den gewählten Politikern, die der Wahrheit ins Auge blickten und Verantwortung für die Republik übernahmen.

Jede Demokratie braucht ein Mindestmaß an Anerkennung von Tatsachen über die politischen Lager hinweg. Respekt zwischen den politischen Kontrahenten ist auch in hitzigen Auseinandersetzungen unverzichtbar. Wenn aber Andersdenkende als Feinde und Verräter geschmäht werden, wenn nur die eigene Ansicht als wahre Volksmeinung gilt, obwohl am Wahltag Millionen mehrheitlich für eine andere Politik votiert haben, dann ist das Gift für jede Demokratie.

Die Weimarer Republik ist ein Lehrstück für die fatalen Folgen von verlogener Propaganda, sprachlicher Verrohung und politischen Feinderklärungen. Wie aus Worten blutige Taten wurden, zeigten die vielen Morde durch Rechtsextreme an Demokraten, von denen der jüdische Außenminister Walther Rathenau das prominenteste Opfer war. Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung hätte eine unüberwindbare Trennlinie zu den Extremisten bilden müssen, aber selbst ein verurteilter Putschist wie Hitler und seine NSDAP waren den Nationalkonservativen willkommene Bündnispartner.

Der Blick zurück zeigt, was Demokratien auch heute bedroht: Sind die Verächter der Demokratie erst einmal in Schlüsselstellen des Staates gerückt, missbrauchen sie dessen Machtmittel zur Zerstörung der Demokratie. Weil die Eliten in Justiz und Verwaltung, Polizei und Militär die Weimarer Republik innerlich oft ablehnten, wurden Demokratie und Freiheit nur halbherzig verteidigt. Weil Fanatiker Verständnis fanden, erodierte der Rechtsstaat. Dass etwa der Österreicher Hitler nach seinem Münchner Putschversuch 1923 von Rechts wegen hätte ausgewiesen werden müssen, unterliefen seine Richter: Auf einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler ... kann nach Auffassung des Gerichts die Vorschrift des Republikschutzgesetzes ... keine Anwendung finden, urteilten sie. Es ist auch eine Lehre aus Weimar, dass der Staat sich seiner Feinde in Staatsämtern erwehren muss, dass insbesondere Polizisten oder Soldaten, die an der Waffe ausgebildet werden und in rechtsextremen Chatgruppen menschenfeindlichen Hass verbreiten, nicht geschützt oder befördert werden dürfen, sondern disziplinarisch bestraft oder entlassen werden müssen.

Die Verantwortung für Schutz und Erhalt einer Demokratie lässt sich sicher nicht auf den Staat und seine Amtsträger allein delegieren, diese Verantwortung trägt spätestens am Wahltag auch jede und jeder Einzelne selbst. Dass die Ikone des Kaiserreichs, der Feldmarschall von Hindenburg, als Nachfolger Friedrich Eberts vom Volk zum Reichspräsidenten gewählt wurde, war allerdings auch die fatale Folge kurzsichtiger Parteipolitik: Im zweiten Wahlgang hatten die Kommunisten an ihrem Zählkandidaten Thälmann festgehalten, und die Bayerische Volkspartei hatte zur Wahl des protestantischen Hohenzollerngenerals statt des rheinischen Katholiken Wilhelm Marx aufgerufen.

Hindenburg begann im Frühjahr 1930 mit der schrittweisen Ausschaltung des Reichstages, indem er ohne Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament Kanzler berief und diese mit präsidialen Notverordnungen regieren ließ. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 war dann der letzte Schritt einer Reihe von Kanzlerwechseln und Neuwahlen, die auf die Zerstörung der demokratischen Institutionen und die Etablierung einer autoritären Herrschaft zielten.

Hitler wollte die totale Macht und versuchte, sich der Kontrolle und Beschränkungen durch Opposition, Gewaltenteilung und Verfassung zu entledigen. Das Ermächtigungsgesetz sollte der Regierung und damit de facto Hitler erlauben, sich Gesetze und Verfassungsänderungen selbst zu schreiben. Zugleich wurde es die pseudolegale Brücke von der Demokratie zur Diktatur, mit der zahllose Opportunisten im Staatsapparat ihre Kollaboration mit dem neuen Regime rechtfertigten. Als Konsequenz daraus enthält heute das Grundgesetz eine Ewigkeitsklausel, die eine Abschaffung von Demokratie, Rechtsstaat und Föderalismus auch im Wege einer Verfassungsänderung verbietet.

Im März vor 90 Jahren hätten die politischen Parteien noch Mittel gegen die Diktatur gehabt. Das katholische Zentrum und die zusammengeschrumpfte bürgerliche Mitte hatten es in der Hand, bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz im Reichstag die notwendige Zweidrittelmehrheit zu vereiteln, doch ihre Abgeordneten ließen sich von Hitler mit falschen Versprechungen ködern und mit offenen Drohungen einschüchtern.

Wir hatten auch Angst. Wir waren auch Menschen und Familienväter, erinnerte sich der Augsburger SPD-Abgeordnete Josef Felder an den Moment der Abstimmung, als bewaffnete SA-Männer im Plenarsaal aufmarschierten. Felder verweigerte gemeinsam mit Otto Wels und den Mitgliedern seiner Fraktion die Zustimmung und musste dafür mit Folter im Konzentrationslager und mit Exil bezahlen. Heute braucht in Deutschland niemand für die Demokratie zum Helden zu werden. Aber es ist notwendig, sich als Staatsbürgerin und Staatsbürger für die freiheitliche Demokratie einzusetzen sowie gegenüber deren Verächtern eine feste Haltung und klare Distanz zu bewahren. Das lehrt uns der Blick zurück, und so viel sollte uns das Glück unseres Landes wert sein.