Rede von Bundespräsident Horst Köhler aus Anlass des 60. Jahrestages der Gründung der UNESCO in Paris

Schwerpunktthema: Rede

Paris, , 5. Oktober 2005

Bundespräsident Köhler am Rednerpult.

I.

Erziehung, Wissenschaft, Kultur - seit nun sechs Jahrzehnten nimmt sich die UNESCO dreier Themen an, die für jeden einzelnen Menschen so wichtig sind wie für die Menschheit als ganze. Ich beglückwünsche die UNESCO und ihre Mitgliedstaaten zu den bisherigen Leistungen, ich wünsche dem neu gewählten Präsidenten der Generalversammlung für sein Amt eine glückliche Hand, und ich danke Herrn Generaldirektor Matsuura für seine erfolgreiche Arbeit in den vergangenen Jahren.

II.

Ich bin gern der Einladung gefolgt, heute zu Ihnen über die Würde des Menschen und die Vielfalt der Kulturen zu sprechen.

Die Würde des Menschen und die Vielfalt der Kulturen - hier und heute sagt sich das leicht. Aber denken wir nur zwei Generationen zurück: Der Zweite Weltkrieg und der von den Nationalsozialisten begangene Holocaust waren das Werk von Aggressoren, die systematisch die Würde des Menschen mit Füßen traten und die Vielfalt der Kulturen beseitigen wollten, so weit ihr Arm reichte. Die Vereinten Nationen und auch die UNESCO wurden gegründet, damit sich derlei nie wiederhole. Heute wissen wir: Die Menschheit ist nicht von der Geißel des Krieges befreit worden, und die Würde des Menschen bleibt vielfach bedroht: durch Armut, durch Unterentwicklung, durch Terror und Unfreiheit.

III.

Die Bedrohungen sind geblieben, und Wachsamkeit bleibt nötig, aber die Voraussetzungen für den Schutz des Menschen und der Vielfalt menschlichen Zusammenlebens haben sich entschieden verbessert. Wir haben die Vereinten Nationen, die beharrlich auf internationale Sicherheit und Ordnung hinwirken. Wir haben weltweite Organisationen wie die UNESCO, die für den Schutz der Menschen­würde eintreten und die Fundamente des Zusammenlebens der Kulturen stärken. Und wir haben eine Weltöffentlichkeit, die Anteil nimmt am Schicksal Einzelner und am Schicksal von Kulturen, die unter Gewalt, Unrecht, Intoleranz und Armut leiden.

IV.

Das Bekenntnis zur Menschenwürde ist zu einem tragenden Grundsatz der internationalen Ordnung, zu einem zentralen Ziel der internationalen Gemeinschaft geworden. Die Charta der Vereinten Nationen und die Verfassung der UNESCO stellen die Menschenwürde ebenso in den Mittelpunkt wie ungezählte universelle und regionale Menschenrechtspakte und nationale Verfassungen. "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Dieser Satz aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist kein philantropischer Wunsch, sondern geltendes Gesetz. Alles politische Handeln muss sich daran messen lassen, ob es zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins beiträgt - von der Politik der Industriestaaten bis zu den Reformanstrengungen der Entwicklungs­länder, von der Welthandelspolitik bis zum internationalen Umweltschutz und zur Bioethik.

Es ist gut, wenn die UNESCO mit der Erklärung zur Bioethik den Versuch unternimmt, klare Grenzen dafür zu formulieren, was Forschung an Menschen darf - und was sie nicht darf. Bitte verstehen Sie aber, dass es zu diesem Thema bei uns in Deutschland noch Bedarf an einer tiefgreifenden, öffentlichen Debatte gibt. Das gilt insbesondere zur Frage der Forschung an Menschen, die nicht über sich selbst bestimmen können.

V.

Jeder Mensch ist einzigartig, einmalig, selbstverantwortlich; aber John Donne hatte Recht: "Niemand ist eine Insel." Wir achten die Würde des Menschen, weil wir seine Fähigkeit achten, sich in Freiheit selber zu bestimmen und zu entfalten; aber diese Entwicklung soll nicht egoistisch und selbstherrlich sein, sondern auf die Gemeinschaft mit anderen Menschen bezogen und durch die Gemeinschaft mit anderen Menschen gebunden. Und dieses verantwortliche Miteinander von Menschen ist es, was Kultur stiftet.

Jede lebendige Kultur schöpft aus der Kraft vieler Menschen, und sie gibt ihrerseits den Menschen Kraft. Kultur vermittelt Heimat, Identität, das Wissen, wo man herkommt und wo man hingehört. Kultur verleiht Selbstbewusstsein, das in sich ruht und Gelassenheit gibt. Kultur lehrt Respekt - Respekt vor denen, die als Vorfahren die eigene Kultur geprägt haben, und Respekt vor anderen Kulturen, weil man auch in ihnen solche Leistungen erkennt. Kultur lebt vom Austausch, sie findet immer neue Wege vom Vertrauten zum Neuen, vom Eigenen zum Fremden. Gerade wenn sie sich ihrer selbst gewiss ist, lässt sie sich auf andere ein und ist bereit, von anderen auch zu lernen.

Die Kulturen der Welt geben Zeugnis von dem, was Menschen miteinander aufgebaut haben, was sie für richtig und für falsch halten, für gut und für böse, für hässlich und für schön. Die Kulturen der Welt sind so einzigartig und einmalig, wie es jeder Mensch ist, und auch aus dem Miteinander der Kulturen kann Neues, Positives hervorgehen, wenn die Kulturen miteinander so respektvoll und so verantwortlich umgehen, wie es zwischen Menschen guten Willens überall auf der Welt selbstverständlich ist.

VI.

Es gibt für ein solches fruchtbringendes Miteinander bereits viele gute Beispiele, nicht zuletzt dank der Arbeit der UNESCO. Sie, meine Damen und Herren, setzen sich für die Erhaltung kultureller Schätze in aller Welt ein, und Sie haben den Begriff Weltkulturerbe geprägt, zu dem schon so viele Völker beigetragen haben und das alle Völker bereichert. Menschen in aller Welt waren entsetzt und traurig, als in Bosnien-Herzegovina die Brücke von Mostar zerstört wurde und als in Afghanistan die Taliban die großen Buddha-Statuen sprengten. Sie empfanden beides als eigenen Verlust. Und umgekehrt: Wenn ein Stück der eigenen Heimat von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wird, dann sind die Menschen stolz darauf und hüten es umso sorgsamer.

VII.

Wir dürfen uns des Erreichten freuen, aber wir müssen uns vor allem den Herausforderungen stellen, die noch nicht gemeistert sind. Ich will die Herausforderung ansprechen, die ich für die wichtigste halte: Wie erreichen wir, dass die internationale Zusammenarbeit nachhaltig den weltweiten Schutz der Menschenwürde verbessert und für mehr Menschen als heute, für alle Menschen ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht? Meine Antwort lautet, und das ist gar nicht so neu:

Armut bekämpfen, Vielfalt bewahren und Partnerschaft aufbauen. Das sind die Schlüssel zu einer guten weltweiten Entwicklung.

Arbeiten wir also noch viel entschlossener auf die Jahrtausendziele der Vereinten Nationen hin, pflegen wir die Vielfalt der Kulturen und achten wir darauf, dass sie offen, respektvoll und partnerschaftlich miteinander umgehen.

VIII.

Wo stehen wir bei den Jahrtausendzielen? Die bisherige Bilanz ist wirklich ernüchternd. Wenn wir beim Tempo der vergangenen fünf Jahre bleiben, dann werden wir der Herausforderung nicht gerecht. Nur wenn wir hartnäckig sind und unsere Anstrengungen verstärken, werden wir bis 2015 Armut, Krankheit und Hunger, Unterentwicklung und Analphabetismus wirksam und spürbar zurückgedrängt haben. Aus meiner Erfahrung beim IWF weiß ich: Armutsbekämpfung ist das wichtigste Ziel.

Dabei kommt es vor allem auf die Entwicklungsländer selbst an. Sie brauchen eigene Wurzeln für wirtschaftliche Entwicklung und sozialen Fortschritt. Diese Wurzeln heißen für mich kulturelle Selbst­vergewisserung, institutionelle Reform, natürlich gute Regierungs­führung und Achtung der Menschenrechte, aber eben auch kulturelle Selbstvergewisserung.

Die Industriestaaten wiederum sollten begreifen: Es liegt in ihrem eigenen Interesse, zu helfen und für ein faires Miteinander zu sorgen. Denn wenn sich die Lebenschancen in den Entwicklungsländern nicht nachhaltig bessern, dann ziehen Armut und Elend zum Wohlstand. Wenn aber die Industriestaaten helfen und auch für ein viel entwicklungsfreundlicheres Handelsregime sorgen, dann gewinnen alle.

IX.

Ebenso wichtig für das internationale Wohl ist die Vielfalt der Kulturen. Das lässt sich sowohl vom einzelnen Menschen her als auch mit der Bedeutung der Kulturen als ganzen begründen.

Dem Einzelnen gibt eine starke und selbstbewusste Kultur in seinem Leben Halt und Orientierung. Solchen Halt und solche Orientierung braucht jeder Mensch, gerade in den Zeiten der Globalisierung. Es ist wie beim Fußball - ich hoffe, Sie sehen mir diesen Vergleich im Jahr vor der Weltmeisterschaft in Deutschland nach: Man braucht ein Standbein und man braucht ein Spielbein. Das Standbein, das ist das Vertraute, die Heimat, die Muttersprache, das sind die Sitten und Gebräuche, mit denen man aufgewachsen ist und von denen man weiß, sie haben sich bewährt. Das Spielbein, das ist die Nutzung von Chancen, das ist die Begegnung mit Neuem, der Kontakt mit Fremden, die Zusammenarbeit mit Partnern, der Austausch von Ideen, von Waren, von Dienstleistungen. Kurzum: Nur dank der bestehenden Vielfalt der Kulturen können die Menschen Fuß fassen und miteinander ins Spiel kommen.

Das spüren die Menschen auch sehr genau, und darum besinnen sie sich verstärkt auf ihre kulturelle Identität, auf das, was sie geprägt hat, was sie von anderen unterscheidet, was sie auszeichnet. Sie brauchen und wollen Heimat. Das ist keine Fluchtbewegung, keine Abkapselung, sondern es ist ein Kraftschöpfen, ein Sich-Besinnen auf das Eigene, um desto besser im Wind des Wandels zu bestehen. Die Vielfalt der Kulturen ist also wichtig um des Einzelnen willen, damit er seinen Platz in der Welt hat, seinen Anteil an der Welt nehmen kann und die gelassene Kraft findet, in die Welt hinauszugehen.

Und umgekehrt gilt: Die Vielfalt der Kulturen ist wichtig und muss bewahrt werden, weil jede ungewollte Erosion einer Kultur immer ungezählte Menschen entwurzelt und ihre Chancen verschlechtert, in Würde zu leben. Ungewollte Erosion droht immer da, wo das verträgliche Maß des kulturellen Wandels verfehlt wird.

Denn natürlich wandeln sich Kulturen - sie haben das immer getan und sich im Wandel selbst bewahrt. Deutsche essen Sushi und Döner, ohne Goethes "Faust" zu vergessen; junge Chinesen lesen "Harry Potter" und entdecken zugleich Konfuzius neu; afrikanische Spieler mischen den europäischen Fußball auf und werden dabei genauso bejubelt wie in ihren Heimatländern.

Wenn aber in einer Kultur die Veränderungen zu heftig werden, dann verlieren die Menschen leicht die Orientierung und den Halt, dann kann die Gemeinschaft zerbrechen, und nur zu oft sind Not und Elend die Folge. Schon allein um das zu verhüten, ist die bestehende Vielfalt der Kulturen wichtig und bewahrenswert.

Die von der UNESCO erarbeitete "Konvention über kulturelle Vielfalt" leistet dazu einen wertvollen Beitrag. Sie ist zugleich ein beeindruckender Beweis für die Leistungsstärke Ihrer Organisation. Wir alle wissen aber auch: Selbst Abkommen wie dieses können die Vitalität einer Kultur weder garantieren noch ersetzen, denn die Vitalität einer jeden Kultur lebt davon, dass Generation um Generation ihre Werte, Traditionen und Ausdrucksformen mit Leben erfüllt.

Auch deshalb bekenne ich mich als Deutscher und als Europäer von Herzen zu den Werten, die Europa geprägt haben: vom jüdisch-christlichen Gebot der Nächstenliebe bis zu den Menschenrechten, vom Gedankengut der Aufklärung und der Toleranz bis zum Bekenntnis zur Freiheit und zur Herrschaft des Rechts, vom Recht auf Selbst­verwirklichung eines jeden Menschen bis zur tugendhaften Verantwortung des Bürgers, descitoyen. All das ist doch wert, bewahrt, nein: gelebt zu werden.

X.

Wir wollen aber mehr schaffen, als nur zu bewahren, was bis heute für den Schutz der Menschenwürde und für ein menschen­würdiges Dasein schon erreicht wurde. Wir wollen durch weltweite Zusammenarbeit das Wohl der Nationen nachhaltig mehren und dadurch möglichst allen Menschen ein Leben in Würde ermöglichen.

Das wird nur gelingen, wenn die Kulturen der Welt offen, respektvoll und partnerschaftlich miteinander umgehen. Wenn dagegen eine kulturelle Gemeinschaft sich missachtet fühlt, zu Boden gedrückt, übervorteilt, überfremdet, dann wird diese Gemeinschaft Widerstand zu leisten versuchen. Sie wird sich abschließen, verhärten, sie wird die Freiheit im Innern beschränken und sie wird äußerlich reizbar sein. Die verzweifelte Furcht, den Halt zu verlieren, schlägt dann leicht um in Aggressivität.

Darum ist es so wichtig, die Kraft und das Selbstvertrauen der Kulturen zu stärken, aber auch ihren Respekt füreinander. Für unser aller Kulturen, so unterschiedlich sie sind, muss gelten: Freuen wir uns unserer Verschiedenheit, pflegen wir unsere Eigenheit, aber begegnen wir einander bei allen Unterschieden immer als Freie und Gleichberechtigte und suchen wir nach Gemeinsamkeit!

Freie und Gleichberechtigte schulmeistern einander nicht und beleidigen einander nicht als gottlos oder unzivilisiert. Sie stehen zu ihrer Sicht der Welt und verteidigen, was ihnen wichtig ist, aber sie wissen auch, dass andere Menschen auf andere Weise leben wollen. Alle Kulturen, die das gegenseitig respektieren, werden immer auch in einem Kern von Überzeugungen übereinstimmen, so wie auch die großen Weltreligionen in wichtigen Grundsätzen übereinstimmen, zuallererst in dem Gebot, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen.

Eine Partnerschaft selbstbewusster Kulturen verbietet kulturellen Imperialismus ebenso wie den Versuch, sich gegen fremde Einflüsse abzuschotten und den Menschen die Freiheit der Wahl zwischen kulturellen Angeboten zu nehmen.

Eine Partnerschaft selbstbewusster Kulturen versteht sich als Lerngemeinschaft, in der jeder auch über sich selbst dazulernt, weil er im Dialog mit dem anderen die eigenen Positionen klärt und überdenkt.

Eine Partnerschaft selbstbewusster Kulturen ist auch die beste Grundlage für die weltweite wirtschaftliche Zusammenarbeit, weil sie diese Zusammenarbeit verknüpft mit der ganzen Fülle des Lebens und mit dem Anspruch aller Menschen auf ein Leben in Würde. So trägt Globalisierung am besten bei zu der Weise, wie die Menschen überall auf der Welt leben wollen: frei von Not, geachtet und in einer Vielfalt von Kulturen. Und das empfinde ich als unseren Auftrag.