Bildungs-Tag der ZEIT-Stiftung "chancengerecht.bilden"

Schwerpunktthema: Rede

Hamburg, , 6. November 2015

Der Bundespräsident hat am 6. November beim Bildungs-Tag der ZEIT-Stiftung "chancengerecht.bilden" eine Rede gehalten: "Jede und jeder verdient seine Chance, egal woher sie stammen, ob aus dem Inland oder aus dem Ausland. Das alles, ich weiß es wohl, bringt Aufwand, es bringt auch Mühe und erhebliche Kosten mit sich. Aber es ist der Anspruch, den eine Gesellschaft der Freien und Gleichen an sich selbst haben muss."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede beim Bildungs-Tag der ZEIT-Stiftung 'chancengerecht.bilden' im Theater Kampnagel in Hamburg

Mit der Bildung in unserem Land verhält es sich so ähnlich wie mit dem Fußball. Zu den 80 Millionen Bundestrainern gesellen sich fast ebenso viele Bildungsexperten. Und das ist ja ganz verständlich – denn wir alle machen unsere eigenen Erfahrungen mit Bildung. Viele von uns haben Kinder und Enkelkinder. Und wir haben alle eine Schule besucht. Das ist eine prägende Erfahrung unseres Lebens. In der Schule werden oft Freundschaften fürs Leben geknüpft. Wer im Beruf angekommen ist, der besucht Weiterbildungen und Seminare und nimmt so wieder die Rolle eines Schülers ein.

Bildung ist ein hochemotionales Thema. So vieles im weiteren Leben hängt von gelingender Bildung ab. Wöchentlich begegnet uns die Bildung in den Medien, häufig in Gestalt von Prozentzahlen. Wir hören von Studien, von Statistiken, und es ist übrigens gut, dass wir davon hören und dass wir nicht so tun, als wäre das kein wichtiges Thema. Im Gegensatz zum Fußball können wir die Bildungsrepublik Deutschland aber nicht gleich in den Rang eines Weltmeisters erheben. Daran sollten wir noch ein wenig arbeiten. Denn dass wir es nicht können, hängt auch damit zusammen, dass es eine starke internationale Konkurrenz gibt. Und es wäre vermessen, so zu tun, als wären wir hier Spitzenreiter. Aber wir sollten Kenntnis nehmen davon, was in der Welt unter unterschiedlichen Bedingungen an Bildungssystemen existiert, und aufnahmebereit sein, für das, was uns weiterhilft. Es ist ganz klar, dass wir in Deutschland über ein außerordentlich leistungsfähiges Bildungssystem verfügen, dessen Qualität und Vielfalt – ich denke dabei natürlich auch an die berufliche Bildung, nicht nur an die Vorbereitung zur akademischen – weltweit hohes Ansehen genießt. Das lässt sich aussprechen, ohne Mängel und Missstände zu beschönigen.

Rein quantitativ hat es nie so viel Wissen und so viel Bildung gegeben in Deutschland. Das verdanken wir natürlich auch äußeren Umständen, der langen Zeit des Friedens und der wirtschaftlichen Prosperität unseres Landes etwa. Viel ist auch in der Bildungspolitik erreicht worden. Der Bildungsstand der deutschen Bevölkerung verbessert sich weiter, genauso die Chancen, sich zu bilden und weiterzubilden. Es gibt auch mehr Studienanfänger denn je. Und die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss ist in den vergangenen Jahren deutlich gesunken – aller Voraussicht nach wird sie auch in Zukunft sinken, aber doch wohl nicht in dem Maß, wie sich der Bildungsgipfel 2008 dies vorgestellt hat.

Eines jedoch hat sich bislang nicht ausreichend verbessert: Seit Jahrzehnten diskutieren wir in Deutschland über Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit. Es ist die große Konstante der deutschen Bildungspolitik: Noch immer hängt Bildungserfolg in Deutschland stark – ja wir könnten sagen: zu stark! – von der sozialen Herkunft ab.

Darüber möchte ich heute mit Ihnen sprechen – und zwar ohne ein grundsätzliches bildungspolitisches Lamento anzustimmen. Weder werde ich Klage führen über eine sich abzeichnende Bildungskatastrophe, noch über Bildungspanik oder die Bildungsfalle. Es ist auch nicht meine Absicht, mich an Strukturdebatten zu beteiligen. Ich möchte heute gemeinsam mit Ihnen einen Blick auf die Bildungswirklichkeit in unserem Land werfen, jedenfalls auf den Teil, bei dem Herkunft und Chancen besonders sichtbar beieinander liegen. Lassen Sie mich Ihnen dazu von einer Schule in meiner Berliner Nachbarschaft erzählen.

Ganz in der Nähe von Schloss Bellevue, meinem Berliner Amtssitz, liegt im Stadtteil Moabit die Hedwig-Dohm-Schule, eine Integrierte Sekundarschule. Was dort geschieht, hilft zu verstehen, was eigentlich gemeint ist, wenn wir von Benachteiligung reden. Der Moabiter Kiez ist vielerorts ein raues Pflaster. Die Hedwig-Dohm-Schule ist eine von zehn Berliner Schulen, die der Berliner Senat Schule in schwieriger Lage nennt und die entsprechend unterstützt werden. Sie hat 450 Schülerinnen und Schüler. Fast alle kommen aus sozial schwachen Familien, auch aus Migrantenfamilien. Die Schülerschaft verteilt sich auf dreißig Nationalitäten.

Es gibt Schüler, die fehlen jedes Jahr an achtzig Tagen. Die Schüler kommen einfach nicht, und keinem gelingt es, diese Kinder zur Schule zu bringen. Sie wachsen in Elternhäusern auf, die mit dem Begriff der Bildungsferne gar nicht adäquat zu erfassen sind. Denn in vielen dieser Elternhäuser gibt es weder Arbeit noch überhaupt Regeln.

Manche Eltern schaffen es zum morgendlichen Schulbeginn ihrer Kinder nicht einmal, das Bett zu verlassen und ihren Kindern Frühstück zu machen. Sie scheinen nicht zu verstehen, welche Schwierigkeiten sie ihrem Nachwuchs dadurch machen.

So kommen Kinder, wenn überhaupt, immer wieder verspätet und häufig hungrig in der Schule an. Die Lehrer, so berichtet der Schulleiter, müssen ihnen dann manchmal begreiflich machen, dass nun der Unterricht beginnt und dass sie das Schulgebäude nicht noch einmal verlassen dürfen, um sich etwas zu essen zu kaufen. Auch für die Lese- und Lernpaten, die ehrenamtlich in die Schule gehen, ist es nicht einfach – sie ernten keineswegs nur Dankbarkeit von den Schülern.

Manche Eltern oder Elternteile sprechen kein Deutsch, und sie sind auch in ihrer Muttersprache Analphabeten. Viele von ihnen haben Schwierigkeiten, in Deutschland zurechtzukommen. Oft fehlt die Brücke zwischen der Schule und der Familie. Dafür ist Sprache nicht der einzige Grund – es gibt ja auch noch kulturelle Hürden, Desinteresse und Unsicherheit.

Es geht mir hier nicht darum, ein allzu düsteres Bild zu zeichnen. Aber ich möchte darauf hinweisen, welche Anstrengungen notwendig sind, um dem Begriff der Chancengerechtigkeit in diesem Umfeld Bedeutung zu geben. Wenn wir uns zurückerinnern, vor 50 Jahren etwa, da war das katholische Mädchen vom Lande Sinnbild eines Bildungssystems, das nicht allen gleich Talentierten gleiche Chancen gewährte oder aus dem sich bestimmte Gruppen selbst ausschlossen, indem sie auf Abschluss oder weiterführende Bildung verzichteten. Heute sind es die Jungen aus den städtischen Unterschichten und aus Familien mit Migrationshintergrund, denen die Gesellschaft ihre Aufmerksamkeit widmen muss.

Wenn ich heute die Hedwig-Dohm-Schule nenne, möchte ich auch darauf hinweisen, was an einer solchen Brennpunktschule schon heute geleistet wird, vor allem von den Lehrerinnen und Lehrern. Denn sie sind es, die mit den Kindern jene Verlässlichkeit einüben, die sie von zu Hause nicht kennen und doch Grundlage allen Lernens ist. An Schulen, wie der Hedwig-Dohm-Schule gehen die Lehrerinnen und Lehrer und alle Mitarbeiter von der Frage aus: Was können wir bestmöglich für den einzelnen Schüler tun? Ihre Einstellung lautet: Wir setzen bei der konkreten Situation eines jeden einzelnen Schülers an.

Ein Beispiel, das zugegebenermaßen nicht alltäglich ist, aber gerade auch deswegen zeigt, wie viel möglich ist: Es kommt ein neuer Schüler an die Schule, quasi strafversetzt. Kriminell war er geworden und, wie sich dann noch zusätzlich herausstellte, auch drogenabhängig. Er war in einer verzweifelten Lage. Und auf diese Situation reagierte die Schule. Sie vermittelte ihm zunächst ein Praktikum, damit er wieder Struktur in den Alltag bringen konnte. Den Kontakt zur Schule hielt der Schüler zunächst über einen wöchentlichen Unterrichtstag. So fand er dann in die Routine des Unterrichts zurück. Er machte in jener Zeit einen Entzug. Schließlich schaffte er den Schulabschluss und fand einen Ausbildungsplatz. Ein scheinbar Gescheiterter bekam eine zweite Chance – und er hat sie genutzt.

Das ist zweifellos eine Geschichte, die Mut macht und für die Arbeit der Schule spricht. Und diese Geschichte ist gar nicht so singulär. Heute, auf dem Flug hierher, habe ich in zwei Berliner Tageszeitungen die Geschichte eines jungen Mannes gelesen. Er ist jetzt schon erwachsen, er hat sogar ein Buch geschrieben, er heißt Yigit Muk, und eine Zeitung schreibt in ihrem Jargon: vom Hauptschulproll zum Einserschüler, vom Gangrabauken zum Studenten. So, und was sagt er unter anderem in diesem Interview? Ich lese das mal vor: Ich hatte früher gar keine Ziele, außer gut Fußball zu spielen und Respekt auf der Straße zu bekommen. Nicht nur Rangeleien, es ging darum, jemanden komareif zu schlagen. Meistens bin ich nicht erwischt worden, ein Mal musste ich Strafsozialarbeit machen. Ich hatte Potenzial, aber ich kannte damals niemanden, der an Abitur überhaupt gedacht hat. Das ist dann anders geworden, auch durch Lehrerinnen und Lehrer. Auch die Geschichte, die ich eben vorgetragen habe, aus Berlin, ging ja gut aus, es gab eben ein Netzwerk von Hilfeleistenden. Alle hatten dasselbe Ziel: die alleinerziehende Mutter hat mitgemacht, das Jugendamt, die Jugendgerichtshelfer, die Schulleiterin, die Lehrerinnen und Lehrer, der Sozialarbeiter der Schule. Wirklich ein Netzwerk. Und wir sehen hier: Erfolge sind möglich, aber sie brauchen einen langen Atem und wahrlich einen großen Einsatz. Und sie brauchen genau auf den Schüler zugeschnittene Unterstützungsmaßnahmen – vielleicht, nein, ganz gewiss auch brauchen viele einen zweiten und auch einen dritten Anlauf. Und ich bin froh über all die Stiftungen, manchmal sind es auch Verbände oder einzelne Firmen, die dieses Problem erkannt haben und neue Möglichkeiten schaffen, auch für einen dritten Neustart.

Ich erinnere mich gerade an die Situation, als ich Kind war und es überall auf dem flachen Land, in jedem Dorf noch viele einzelne Handwerksbetriebe gab, Handwerksmeister oder Bauern, die einfache Arbeiten zu vergeben hatten. Gescheiterte Schulkinder und Jugendliche gingen da hin und lernten an der Hand eines Meisters, der dem Jungen oder dem Mädchen etwas zutraute, die ersten Handgriffe. So fanden sie ins Leben hinein. Das war oft paternalistisch, weit weg von unseren Einstellungen über moderne pädagogische Abläufe, aber in diesem Paternalismus war ein wesentliches Element, und dieses Element heißt: Wahrnehmen und Zuwendung. Und durch diese Wahrnehmung der konkreten Situation des einzelnen Menschen und die Zuwendung eines engagierten, anleitenden Menschen haben unendlich viele Leute, die niemals Abi gemacht hätten und auch nicht einmal die Hauptschule geschafft haben, doch einen Platz im Leben gefunden und sind respektierte Mitbürgerinnen und Mitbürger geworden. Unsere Gesellschaft ist heute anders organisiert. Und deshalb muss es uns darauf ankommen, in einer anderen soziologischen Situation eben diese Möglichkeiten zu schaffen, um zweite und dritte Chancen zu realisieren. Und ich danke allen, die dabei mitwirken.

In schwieriger Lage also brauchen wir viele helfende Hände. Wir erkennen, dass sie notwendig sind, und zwar nicht nur in der Schule, sondern auch darum herum. Nicht allein den Lehrerinnen und Lehrern darf aufgebürdet werden, Schüler zu Leistung zu motivieren und zum Durchhalten zu bewegen. Zumal sie den Anspruch, jedem einzelnen Schüler gerecht zu werden, oft nur dann einlösen können, wenn sie mehr Zeit und mehr Zuwendung aufbringen, als es ihre Dienstpflicht eigentlich vorsieht. Die Erfahrung lehrt: Auf die Haltungen der Lehrerinnen und Lehrer kommt es an. Wir übersehen dabei oft, dass sie sich überfordern, und wir gehören zu den Menschen, die darauf achten müssen, dass sie nicht allein bleiben bei ihren Bemühungen um diese Personengruppe.

Lehrerinnen und Lehrer sind zudem oft das Ziel von Häme und Kritik. Dabei leisten sie in unserem Land Tag für Tag beinahe Unglaubliches. Und ich bin froh, dass ich das heute einmal, nicht nur als Bürger sondern als Präsident, ganz ausdrücklich würdigen kann. Viele von Ihnen gehen beständig an ihre physischen und psychischen Grenzen, um ihren geliebten Lehrerberuf weiter ausüben zu können. Lehrer, meine Damen und Herren, das ist doch einer der wichtigsten, einer der schönsten, aber auch der schwierigsten Berufe. Ich bin dankbar für Ihr großes Engagement, liebe Lehrerinnen und Lehrer, dankbar für Ihren Idealismus, für Ihre Geduld und für Ihre Tatkraft, und diesen Dank will ich heute doppelt und dreifach unterstreichen.

Ich habe eben das Beispiel der Hedwig-Dohm-Schule gebracht, das ist drastisch gewesen: Aber wir sehen an ihm, wie wichtig es ist, vom Einzelnen, von seinen Talenten, von seinen Stärken und von seinen Schwächen auszugehen. Wirkliche Chancengerechtigkeit darf sich nicht auf so etwas wie formale Gleichheit beschränken.

Die Aufklärung gab den Menschen gleiche Rechte. Zu Recht erwarten wir daher von unseren Bildungseinrichtungen, dass sie allen Schülerinnen und Schülern gleiche Ausgangsbedingungen garantieren. Aber gleiche Rechte können ungleiche Begabungen und Fähigkeiten nicht wettmachen. Sie können auch ungleiche soziale Voraussetzungen und mentale, kulturelle Prägungen nicht gänzlich ausgleichen. Wichtig ist es daher, formale Gleichheit durch spezifische Förderung zu ergänzen, damit Menschen das erreichen können, was ihre Fähigkeiten erlauben. Das ist der zentrale Anspruch, hinter den unsere Gesellschaft, besonders unsere moderne Einwanderungsgesellschaft, nicht zurückfallen darf: Bei gleichen Begabungen muss es gleiche Aufstiegsmöglichkeiten geben.

Dann liegt es auch an jedem Kind selbst und an jedem Jugendlichen besonders, seine Chance zu ergreifen und Hilfe anzunehmen. Dann kommt auch das individuelle Wollen ins Spiel. Es braucht eben auch die Bereitschaft, sich anzustrengen. Und wer diese Botschaft nicht mehr vermittelt, der macht einen schweren Fehler. Kinder und Jugendliche können es nur so erfahren, wenn sie bereit werden, diese Anstrengung und dieses Wollen zu leben. Sie können nur so Glückserfahrungen machen, die ohne Anstrengung überhaupt völlig unmöglich sind. Ja, es gehört einfach zum Leben dazu. Vor lauter Menschenfreundlichkeit haben wir uns aber oft abgewöhnt, Forderungen zu stellen und Erwartungen auszusprechen, die Anstrengungen kosten. Aber das ist überhaupt nicht menschenfreundlich, das ist lebensfremd. Und wir könnten das an ganz einfachen Beispielen nachvollziehen. Die Kinder, die wir hier gesehen haben, mussten aufstehen, zum Training gehen, sie mussten sich anstrengen, einige haben es schneller gelernt als andere, wie wir gesehen haben. Wir haben auch unterschiedliche Begabungen gesehen, aber eine gemeinsame Freude der unterschiedlich Begabten haben wir auch gesehen. Und sie haben durch Anstrengung etwas zu Wege gebracht. Ja, warum sollen wir das nicht vermitteln und immer nur so tun, als wäre die Gesellschaft in einer Bringschuld? Nein, wir sind es alle.

Wir werden heute einem Mann begegnen, dessen Biographie viel von dem darstellt, über das wir nachdenken und über das ich spreche: über inneren Antrieb, ein inneres Wollen und über die beflügelnde Wirkung von Schule und Lernen. Ich spreche von einem Herren, den Sie später selber noch kennenlernen werden, es ist Philip Opprong Spenner, der heute hier mitwirkt. Sie, Herr Spenner, wuchsen als Waisenkind in den Straßen Nairobis auf, und heute arbeiten Sie als Lehrer, als Studienrat, hier in Hamburg. Und Sie haben einmal gesagt: Die Schule war die Quelle meines Selbstbewusstseins. Ich habe gesehen: In mir steckt etwas. Die Schule war mein Himmel. Na, so was. Stimmt das?

Ihre Bildungserfahrungen, Herr Spenner, haben Sie in Ost-Afrika und in Deutschland gemacht. Sie begegneten in Kenia Menschen, die dafür sorgten, dass Sie zur Schule gehen konnten. Ein deutscher Arzt adoptierte Sie, Sie kamen nach Deutschland und führten Ihr Studium in Hamburg fort, nach Sprachunterricht und Studienkolleg. Und damit sind Sie ein Beispiel dafür, was im deutschen Bildungssystem möglich ist, wenn ein bildungshungriger junger Mensch Chancen und Unterstützung erhält – und dass sich hier Bildungsbiographien fortschreiben lassen, die in anderen Ländern, in anderen Teilen der Welt begonnen haben. Ich will an dieser Stelle noch einen Dank an die Hamburgische Gesellschaft einfügen. Ich kenne unendlich viele Menschen, die in Hamburg nicht nur als Lehrerinnen und Lehrer, sondern als Ärztinnen und Ärzte, als Zahnärzte, als Unternehmer, als Steuerberater in den unterschiedlichsten Berufen aktiv sind, um dem Gedanken der Solidarität ins Leben zu verhelfen, indem man ins Ausland geht oder hier patenschaftlich tätig ist und Menschen begleitet auf dem Weg, der uns hier am Herzen liegt. Und diese Hamburger Bürgergesellschaft, die ist schon etwas Schönes. Ich will das heute einfach mal aus meinem Herzen herauskullern lassen. Ich freue mich, liebe Hamburger, dass das Ihre Kultur ist. Herzlichen Dank dafür!

Was außerhalb der Schule geschieht, prägt das Lernen und das Leben an der Schule entscheidend mit. Und deshalb liegt es auf der Hand, dass wir die Schulen nicht mit Erwartungen überfrachten dürfen. Schule kann nicht der Reparaturbetrieb einer ganzen Gesellschaft sein, es ist oft ausgesprochen und immer noch wahr, sie kann nicht all das kompensieren, was von Seiten der Eltern in den ersten Lebensjahren eines Kindes versäumt wurde.

Aus der Forschung wissen wir, dass nicht die materielle Armut selbst, sondern deren Begleitumstände die gesellschaftlichen Chancen von Kindern mindern – zum Beispiel ein geringer Bildungsgrad, aber auch mangelnde Fürsorge oder auch fehlender Aufstiegswille im Elternhaus. Entscheidend ist also, dass Kinder in einem positiven, von emotionaler Sicherheit geprägten Umfeld aufwachsen – Mütter, hoffentlich mit Vätern, Geschwister, Freunde – sie müssen als Vorbilder einem Kind zur Verfügung stehen, kurz, es muss in einer sozialen und kulturellen Umgebung aufwachsen, die ihm Halt gibt.

Und Väter und Mütter tragen nun einmal dazu bei, dass Kinder die Bereitschaft entwickeln können, sich anzustrengen. Denn wer wüsste nicht, dass man im Alter von 13 Jahren andere Sorgen, andere Bedürfnisse und oft auch andere Interessen hat als Schule und Bildung. Eine positive Einstellung zu Lernen und Leistung – das muss eben im Elternhaus vorgelebt und aufmerksam begleitet werden. Eltern, häufig auch Großeltern befähigen und ermutigen Kinder, sich aufzumachen und die Welt mit offenem Geist und Tatendrang zu entdecken.

Vor einigen Wochen hörte ich einen Vortrag des Bildungsforschers Marcus Hasselhorn. Eindrucksvoll legte er dar, dass Bildung und Erziehung in den ersten Lebensjahren das wichtigste Fundament für das spätere Leben bilden. Frühkindliche Bildung ist auch Schlüssel zu erfolgreicher Integration. In vielen jungen Familien fehlt dieses Wissen. Und es gibt dazu noch Defizite beim Spracherwerb.

Mit frühkindlicher Bildung und Erziehung hat nun Deutschland Erfahrung: Kindergarten, dieses deutsche Wort ist weltweit ein Begriff geworden. Aber das ist nunmehr seit hundert Jahren so, und wir stehen vor der Aufgabe, diesen Begriff neu mit Inhalt zu füllen. Und wir begreifen Schritt für Schritt, darin liegt auch eine Chance für unser Land. In der frühkindlichen Bildung müssen wir einfach besser werden und so früh damit beginnen, dass Benachteiligungen ausgeglichen werden. Denn was hier versäumt wird, ist später nur schwer, manchmal gar nicht, aufholbar.

Wenn sich der Bildungserfolg so maßgeblich in den Familien entscheidet, dann müssen wir auch bei den Familien ansetzen. Dann müssen Familien ermutigt werden, sich stärker für das Fortkommen ihrer Kinder zu interessieren und darauf achten, dass sie ihre Freizeit sinnvoll verbringen. Dafür ist nun oft kein ausreichendes Bewusstsein vorhanden. Umso erfreulicher ist es, dass wir überall auch von positiven Beispielen lernen können, so auch hier, auch heute. Ich werde nachher die Familie Yarbas treffen. Familie Yarbas, so wird mir berichtet, lebt schon seit Jahrzehnten in Deutschland. Die Eltern stammen aus der Türkei und haben sich hier in Deutschland kennengelernt. Die Familie, ja die Familie, bekam ein Stipendium. Das bedeutete jetzt Akademietage für Kinder und Eltern.

Der Sohn Yakup-Abdullah besucht seit seiner Realschulprüfung die gymnasiale Oberstufe, und er möchte gerne Informatiker werden. Begleitend besucht er einen Deutschkurs. Seine Mutter hat seinen Weg und den seiner Geschwister immer eng begleitet und engagiert sich ehrenamtlich auch für andere Kinder. Und Yakups Vater, er hat die Arbeitslosigkeit hinter sich gelassen, ist heute Taxiunternehmer und hat sich durch einen Englischkurs weiterqualifiziert. Liebe Familie Yarbas, Ihr Beispiel zeigt, welche Kräfte in einer Familie freigesetzt werden, wenn sie gemeinsam aufbricht. Sie können stolz darauf sein, dieses Experiment gewagt zu haben. Und Dir, Yakup, wünsche ich, dass Du all Deine Träume und Ziele erreichst!

Weit verbreitet ist die Vorstellung, eine gelingende Arbeitsbiographie könne nur die Folge einer gelungenen Schulbiographie sein. Das ergibt sich eigentlich auch ein bisschen aus meiner Rede.

Aber jetzt gucken wir das Leben noch einmal genau an. Es besteht nämlich – und das ist gut so – in unserem Land eine Vielzahl von Angeboten, an Beratung, an Projekten und an Initiativen für jene jungen Menschen, die in der Schule, auch in der Berufsschule scheitern, worüber ich vorhin gesprochen habe. Und wir machen uns das jetzt noch einmal ganz deutlich, stellen uns das ganz deutlich vor Augen. Und wir erkennen, wenn wir deutlich hinschauen, dass keinesfalls jeder im Leben scheitern muss, der einmal in der Schule gescheitert ist.

Ich will Ihnen dazu ein besonders schönes Beispiel nennen, das Beispiel von Thomas Fischer, er ist heute Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof. Dorthin kommen nur ganz besonders qualifizierte Juristen. Und jetzt hören wir mal, was er in einem Interview über sich selber sagt: Ich war ein völliger Schulversager. Seine Schulzeit bezeichnet er als ein einziges Desaster. Eigentlich habe er nämlich sowieso immer Rockstar werden wollen, und so brach er die Schule ab, er sah keinen Sinn darin. Doch der Plan von der Musikerkarriere scheiterte bald und dann hat es ihn doch zurückgebracht an die Schule, wo er schließlich Abitur machte. Er schrieb sich da in dem Fach Germanistik ein, hatte nebenbei verschiedene Jobs und brach das Studium nach wenigen Semestern ab. Danach arbeitete er als Paketzusteller. Aber irgendwie hat ihm das nicht gereicht und er begann dann doch mit einem Jurastudium – und da hatte er seinen Weg gefunden.

Manchmal, so lernen wir daraus, muss man vielleicht scheitern, um eine neue Weggabelung zu finden, um ein Ziel neu zu definieren und zu justieren, um bei sich selbst anzukommen. Und vielleicht müssen wir manchmal auch eine neue Sicht auf das Scheitern entwickeln oder erlernen – und wahrnehmen, dass tatsächliche Neuanfänge möglich sind. Gut, wenn es dann Unterstützer und Unterstützung gibt. In diesem Fall war es die Leitung von Fischers Gymnasium, das ihm eine zweite Chance gab, das Abitur zu machen. Es waren dann Hochschullehrer, später waren es auch Vorgesetzte und Kollegen – Menschen, die sein Potenzial und seine Begabung erkannt hatten.

Immer noch versuchen wir viel zu sehr, im Berufsleben die Fassade einer Lückenlosigkeit aufzubauen und zu erhalten. Das steht aber im Gegensatz zu vielen menschlichen Erfahrungen. Wenn wir nun einerseits den Wert des lebenslangen Lernens hochhalten, wenn immer mehr Flexibilität und Offenheit von den Lernenden und den Arbeitnehmern gefordert wird, dann kann es nicht andererseits eine starre Erwartung geben, wie eine Biographie auszusehen hat. Dann sollten wir den Blick – auch hier! – auf das Individuelle und damit auf die Stärken, auf die spezifischen Gaben einer Person lenken. Dann sollte der lückenlose Lebenslauf weniger zählen als das, was die Person im Lauf ihres Lebens gerade auch durch Schwierigkeiten oder zeitweiliges Scheitern dazugelernt hat. Da brauchen wir nichts weniger als ein Umdenken in unserer Gesellschaft.

Es lohnt sich, einige alte Gewissheiten auf den Prüfstand zu stellen. Vielleicht wird es sogar unausweichlich sein, unsere Gesellschaft und mit ihr unser Bildungssystem massiv zu verändern.

Das gilt besonders heute, wo so viele Menschen Zuflucht suchen in unserem Land. Kaum jemand unter den Flüchtlingen spricht Deutsch. Sie kommen aus Ländern mit einer anderen Kultur, anderer Religion, anderen politischen Ordnungen. Zum Teil sind sie gut ausgebildet und können bald ins Berufsleben integriert werden, aber zum größeren Teil sind ihnen Grund- und Fachkenntnisse erst noch zu vermitteln. Umso mehr müssen wir uns anstrengen in der Ausbildung von Lehrern. Nicht nur brauchen sie die nötigen sprachlichen und interkulturellen Kompetenzen – sie brauchen auch das nötige Fachwissen zur Vermittlung dessen, was unsere freiheitlich-demokratische Ordnung ausmacht. Die Schule ist eben auch eine Welt und ein Raum, der Werte vermitteln muss. Nur dann kann Bildung die Integrationswirkung entfalten, die ihr zugedacht ist.

Hier in Hamburg ist diese Entwicklung schon sehr deutlich spürbar. Viele Flüchtlinge sind in diese Stadt gekommen. Die Reaktion der Bürgerschaft ist eindrucksvoll: Ich nenne stellvertretend für ganz viele Ehrenamtliche, die sich im Projekt Weichenstellung der ZEIT-Stiftung als Mentoren für Kinder aus Flüchtlingsfamilien engagieren. Mir ist von der Familie Hassan berichtet worden, deren zehnjährige Tochter Basant von der Mentorin Yagmur Celik unterstützt wird, die wiederum selbst aus einer Migrantenfamilie stammt. Basant besucht nach ihrem ersten Jahr der Förderung nun ein Hamburger Gymnasium. Ihre Mentorin, Frau Celik, sagt über sie: Sie hat sich in dem ersten Jahr sehr geöffnet und traut sich zu, auch einen erweiterten Wortschatz anzuwenden […]. Soweit Frau Celik. Sie traut es sich zu. Da ist etwas geschehen, das in diesem Menschen Zutrauen zu sich selbst eröffnet hat. Das sind die Taten, die wir brauchen. Wir sehen: Neben der konkreten Sprachkompetenz gibt es eine andere wesentliche, eine emotionale Komponente. Das Kind spürt: Da glaubt jemand an mich. Und es beginnt sich zu öffnen und ein neues Selbstvertrauen zu entwickeln.

Bei neuen Lösungen können auch der gewachsene Optimismus und die ausgeprägte Toleranz der jungen Generation helfen. Wir können die erforderlichen Lösungen zwar nicht über Nacht herbeizaubern, aber wir können heute die richtigen Weichenstellungen vornehmen.

Dabei können wir an ein starkes Bildungssystem anknüpfen, an viele Initiativen und Projekte, die über Jahre entwickelt worden sind und die sich bewährt haben. Die Bedeutung der Schule, übrigens auch die Bedeutung der Stiftungen wird nicht geringer, sie ist wichtiger geworden.

Die Aufgabe und die Verpflichtung, Chancengerechtigkeit in unserem Land sicherzustellen, werden uns schon deshalb dauerhaft begleiten, weil wir als Einwanderungsgesellschaft noch mehr als jetzt schon gefordert sein werden. Viele Bürger werden ihre Schulkarriere nicht in Deutschland begonnen haben oder werden aus Familien stammen, die zugewandert sind. Jede und jeder verdient seine Chance, egal woher sie stammen, ob aus dem Inland oder aus dem Ausland. Das alles, ich weiß es wohl, bringt Aufwand, es bringt auch Mühe und erhebliche Kosten mit sich. Aber es ist der Anspruch, den eine Gesellschaft der Freien und Gleichen an sich selbst haben muss. Wir tun gut daran, uns diesem Anspruch zu stellen. In ihm zeigt sich, wer wir sind und wer wir sein wollen.