Weihnachtsansprache 2000 von Bundespräsident Johannes Rau

Schwerpunktthema: Rede

25. Dezember 2000

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

meine Frau und ich wünschen Ihnen ein gutes, ein friedliches Weihnachtsfest.

Zu Weihnachten denken wir mehr als sonst an Menschen, die uns nahe und vertraut sind, unsere Gedanken gehen auch zu denen, denen es nicht so gut geht. Wir möchten etwas von dem Frieden weitergeben, von dem die Weihnachtsbotschaft spricht.

Nicht überall auf der Welt leben die Menschen in Frieden. Heute denken wir natürlich besonders an Bethlehem. Vor kurzem noch schien der Friede im Nahen Osten zum Greifen nahe. Dann drohte er in einem Sog von Hass und Gewalt unterzugehen.

Wir wünschen uns nichts sehnlicher, als dass gerade Jerusalem, die Stadt, die den Juden, den Christen und den Moslems gleichermaßen heilig ist, ein Sinnbild für Gemeinsamkeit wird. Wir haben im zu Ende gehenden Jahr auch erlebt, dass sich Hoffnungen erfüllen können. Jugoslawien kehrt nach Europa zurück und in Korea haben die Menschen sich auf den Weg gemacht, die Teilung ihres Landes zu überwinden.

In diesen Weihnachtstagen spüren wir mehr als sonst im Jahr, dass wir Menschen aufeinander angewiesen sind und zusammengehören: In der Familie, im Kreis von Freunden, unter Arbeitskollegen und im Verein.

In diesen Tagen des Wunsches nach Friede auf Erden werden aber auch die Sorge um kranke Angehörige, werden Einsamkeit, Streit oder der Verlust eines Menschen stärker, schmerzlicher erlebt als sonst.

Wir gehören zusammen: auch das ist ein Teil der weihnachtlichen Botschaft vom Frieden auf Erden. Davon möchte ich heute Abend sprechen.

Wir gehören zusammen und wir sind aufeinander angewiesen, im Kleinen wie im Großen.

Wir gehören zusammen in unserem Land, in Deutschland. Wir Deutsche in Ost und West. In diesem Jahr haben wir uns über zehn Jahre staatlicher Einheit freuen können. Aber noch immer haben wir viele Vorurteile und Fehlurteile übereinander. Wir wissen zu wenig, wir erzählen uns zu wenig über unsere unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen.

Unterschiede können fruchtbar sein und das Leben spannend machen. Wir müssen aber aufpassen, wie wir übereinander reden, wie wir miteinander umgehen, welches Klima dadurch entsteht. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir gemeinsam handeln müssen, damit es unserem ganzen Land gut geht.

Wir gehören zusammen in Deutschland - wir alle, die auf Dauer hier leben.

In Deutschland leben heute auch viele Menschen, die aus anderen Ländern gekommen sind.

Wir müssen und wollen friedlich miteinander leben. Dafür brauchen wir guten Willen. Illusionen aber führen zu nichts: Es ist oft nicht leicht, miteinander auszukommen, wenn wir uns in Sprache und Herkunft, in Religion und Kultur fremd sind. Manche fühlen sich überfordert, manche haben Angst, manche haben vielleicht auch schlechte Erfahrungen gemacht - Deutsche wie Ausländer. Solche Sorgen und Schwierigkeiten darf man nicht beiseite schieben. Wir müssen darüber reden und dann handeln. Nur so können wir Fremdheit überwinden und die Probleme lösen.

Ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam erfolgreich sein werden. Die ganz große Mehrheit der Deutschen ist nicht fremdenfeindlich und sie ist auch nicht bereit, Fremdenfeindlichkeit zu dulden.

Wir müssen noch mehr als bisher aufeinander zugehen. Ich nenne zwei kleine Beispiele:

Ich habe vor einigen Tagen den Unterricht an einer Hauptschule in München besucht. Eine Klasse bestand komplett aus Schülern nichtdeutscher Herkunft. Alle sprachen gut deutsch. Das spricht für die Jugendlichen und ihre Bereitschaft, heimisch zu werden, das spricht aber auch für das Engagement der deutschen Lehrer.

Dann war ich vor kurzem in einer Grundschule im Berliner Wedding. Dort lernen Mütter aus der Türkei und aus dem Libanon deutsch - in derselben Schule, in die ihre Kinder gehen. Manche der Mütter leben schon mehr als zwanzig Jahre in Deutschland, ohne deutsch zu sprechen. Jetzt haben sie den richtigen Schritt gemacht. Das ist möglich, weil es engagierte Kursleiterinnen gibt - und weil die nötigen Mittel und Räume zur Verfügung stehen. Ich wünsche mir überall in Deutschland ähnliches Engagement - von beiden Seiten.

Jedes Land hat seine Besonderheiten und seine eigenen Traditionen. Das gilt auch für Deutschland.

Manches mögen wir ja an uns selber nicht und besonders gut sind wir oft darin, unsere eigenen Schwächen herauszustellen.

Ich bin aber sicher: Mit vielem können wir in Deutschland sehr zufrieden und auf manches auch mit Recht stolz sein.

Wir leben in einer offenen und freien Gesellschaft, die sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst ist.

In unserem Grundgesetz sind wichtige Wertentscheidungen getroffen, die die Basis unseres Zusammenlebens ausmachen.

Wir haben eine lebendige Demokratie, die ihre Stärken gerade darin zeigt, dass sie mit schwierigen Situationen fertig wird.

Wir haben einen Staat aufgebaut, in dem es uns materiell besser geht als allen unseren Vorfahren.

Wir haben erfolgreiche große und kleine Unternehmen und wir haben Gewerkschaften, die konfliktfähig und verantwortungsvoll sind.

Wir können jungen Menschen eine gute Bildung und Ausbildung ermöglichen.

Engagierte Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen und Lehrer helfen mit, auch Herz und Charakter zu bilden.

Musikerinnen und Schriftsteller, Schauspieler und Künstlerinnen schaffen ein farbiges kulturelles Leben.

Wir haben kritische Medien, die uns in den meisten Fällen verlässlich informieren; das Angebot unserer Verlage und Buchhandlungen ist reich und vielfältig.

Wissenschaft und Forschung haben einen guten Ruf.

Viele Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger tun verlässlich ihren Dienst. Unsere Polizei und unsere Justiz funktionieren, und wer nur ein bisschen in der Welt unterwegs ist, der weiß, dass wir auch mit der gern kritisierten Bürokratie in Deutschland im Grunde ganz gut leben können.

Die Schönheit und die Vielfalt unserer Städte und Landschaften, manche Bauwerke und Museen führen Jahr für Jahr viele Millionen Besucher nach Deutschland.

Traditionsreiche Feste prägen unseren Jahresablauf und geben Orten und Regionen einen unverwechselbaren Charakter.

All das gehört zu uns, all das macht Deutschland zu einem Land, in dem man gerne lebt. Natürlich: Vieles lässt sich verbessern, vieles muss immer wieder geprüft und neu gestaltet werden. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe, die Aufgabe für uns alle, die wir in Deutschland leben.

Viele arbeiten daran: Viele Hunderttausende Frauen und Männer setzen sich ehrenamtlich für andere ein. In Sportvereinen oder Selbsthilfegruppen, in Kirchen oder Gewerkschaften, bei der freiwilligen Feuerwehr oder bei der DLRG, in der Jugendarbeit oder in der Altenpflege, beim Einsatz für eine intakte Umwelt oder für einen lebendigen Stadtteil. Wer hier oder anderswo mittut, der sorgt für die Wärme, die weder der Staat noch der Markt schaffen können, ohne die aber unsere Gesellschaft erfrieren würde.

Wärme gibt auch elterliche Liebe. Ich danke allen jungen Paaren, die den Mut zu Kindern haben - und die ihre Kinder mit Liebe und Beispiel erziehen. Das ist heute nicht leicht, weil inzwischen auch Kinder zuerst als Konsumenten angesehen werden. Herz- und Charakterbildung, Liebe und Wertschätzung werden aber vor allem und zuerst durch elterliche Zuwendung erlebt.

Ich danke heute allen, die sich in besonderer Weise in den Dienst ihrer Mitmenschen stellen - ob hier oder in anderen Teilen der Welt. Vergessen wir nicht, wie viele unserer Mitbürger als Soldaten, als Polizisten oder als zivile Helfer in allen Teilen der Welt für Frieden und für Menschenrechte arbeiten.

Zu unseren schönsten Traditionen gehört das Weihnachtsfest, dazu gehören die Lichter und die Stimmungen, die Gefühle und die Erwartungen, die wir damit verbinden.

Nicht jeder empfindet das gleich und gewiss ist vieles inzwischen hemmungslos kommerzialisiert. Aber wenn wir ein bisschen innehalten, können wir noch immer den unzerstörbaren Kern der weihnachtlichen Botschaft entdecken, ganz gleich, ob wir gläubig sind oder nicht:

Das Kind im Stall von Bethlehem erinnert uns daran, dass wir nicht aus uns selber leben. Wir leben vom Geschenk, das wir uns selber nicht geben können. Zuwendung und Mitmenschlichkeit sind unbezahlbar. Von diesem Unbezahlbaren leben wir.