Tischrede von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrages

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 23. Januar 2003

I.

Herzlich willkommen im Schloss Bellevue. Gibt es einen schöneren Namen für einen Ort, um 40 Jahre deutsch-französische Freundschaft zu feiern? Bellevue - das steht heute für einen Rückblick auf vierzig Jahre besonderer Partnerschaft und Freundschaft zwischen Franzosen und Deutschen. Und es steht für den hoffnungsvollen Ausblick auf eine Zukunft, in der Frankreich und Deutschland die treibende Kraft in Europa bleiben - in einem Europa, das immer stärker zusammenwächst und das in der Welt wirtschaftlich, kulturell und politisch die Rolle spielt, die ihm zukommt.

Gestern haben die Regierungen und die Parlamente Deutschlands und Frankreichs den Elysée-Vertrag feierlich bekräftigt und fortentwickelt. Ich bin zuversichtlich, dass ihre gemeinsamen Erklärungen den Beziehungen beider Länder ein neues Momentum verleihen werden. Dieser Geist begleitet uns heute im Schloss Bellevue, wenn wir mit Ihnen, Herr Präsident, und unseren deutschen und französischen Freunden unser gemeinsames Jubiläum feiern.

II.

Das Verhältnis unserer beiden Länder und Völker war früher häufiger vom Gegeneinander bis hin zur kriegerischen Auseinandersetzung bestimmt als von friedlichem Austausch. Annexion und Zerstörung, Leid und Besetzung, das waren die Erfahrungen und die von Generation zu Generation weitergegebenen Erinnerungen der Menschen. Diese Erfahrungen so vieler Menschen und auch politisch Verantwortlicher in unseren Ländern gipfelte in der Behauptung einer quasi natürlichen "Erbfeindschaft" - und es erwies sich lange Zeit als fast unmöglich, ihren fatalen Konsequenzen zu entrinnen.

Es bedurfte zweier Katastrophen, damit Deutsche und Franzosen sich von diesen Vorurteilen lösen konnten. Mit Charles de Gaulle und Konrad Adenauer fanden sich zwei Staatsmänner, die Weitsicht und den Mut hatten, in der "Sprache des Vertrauens und der Zusammenarbeit miteinander zu reden". So haben Sie es, Herr Präsident Chirac, in Ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000 formuliert.

Vor der ersten Begegnung des französischen Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers am 14. September 1958 in Colombey-les-deux-Eglises gab es noch einige Ungewissheiten.

Adenauer hat in seinen Memoiren bekannt, er sei "von großer Sorge erfüllt" gewesen, denn er habe "befürchtet, die Denkweise von de Gaulle wäre von der (seinigen) so grundverschieden, dass eine Verständigung zwischen (...) beiden außerordentlich schwierig wäre." Die persönliche Begegnung mit de Gaulle hat aber auch den ersten deutschen Bundeskanzler überzeugt. Er stellte anschließend fest, dass de Gaulle und er"über die großen Gegebenheiten (der) Zeit übereinstimmten"und dass"diese Übereinstimmung, wenn akute Fragen oder Probleme kommen werden",Bestand haben werde.

Konrad Adenauer hatte Recht und er sollte auch Recht behalten. Verständigung kann gelingen, wenn sie auch eine Herzensangelegenheit ist. Das war bei de Gaulle wie bei Adenauer der Fall - bei allem Kalkül, das in der Politik immer eine Rolle spielt und sicherlich auch bei diesem "Traumpaar" mitschwang. Die politischen Söhne und Enkel haben das bis in die Gegenwart weitergeführt -Valéry Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt, Francois Mitterrand und Helmut Kohl, Jacques Chirac und Gerhard Schröder, die vor wenigen Tagen der Diskussion über die europäische Verfassung einen wichtigen Anstoß gegeben haben.

Die besondere Qualität des Elysée-Vertrages erkennt man daran, dass er eine so anhaltende und tief reichende Wirkung entfaltet hat. Es gibt mancherlei Verträge über Freundschaft, gute Nachbarschaft oder gute Zusammenarbeit. Viele bleiben bloßes Papier. Doch diese deutsch-französische Verabredung hat große Breitenwirkung entfaltet, denn sie hat die Köpfe und die Herzen der Menschen erreicht. Die Gesellschaften unserer Länder sind heute enger miteinander verbunden als irgend andere.

Das wohl wichtigste Fundament haben 5.000 Schulpartnerschaften gelegt und das Deutsch-Französische Jugendwerk, das einer ganzen Generation junger Menschen den Aufenthalt im anderen Lande ermöglicht hat. Darüber hinaus und jenseits von Verträgen und offiziellen Austauschprogrammen sind Tausende von Partnerschaften entstanden - zwischen Städten und Kreisen, Musikvereinen und Feuerwehren, Pfadfindern und Sportvereinen, Kirchengemeinden und Gewerkschaftsgruppen. Jeder, der daran beteiligt ist, brachte und bringt ein Stück Deutschland nach Frankreich und umgekehrt.

Kein Land ist in Deutschland so präsent wie Frankreich: Im Bewusstsein der Menschen und in ihrem Interesse, in ihren Kenntnissen und in ihren Vorlieben. Das deutsch-französische Miteinander ist im besten Sinne des Wortes alltäglich geworden - ich erwähne nur unseren gemeinsamen Fernsehkanal ARTE und die "Deutsch-französische Brigade" - wie alles Alltägliche bemerken wir das oft gar nicht mehr. Genau in dieser Alltäglichkeit, in diesem Selbstverständlichen liegt auch das Besondere der deutsch-französischen Erfolgsgeschichte, sie ist der eigentliche Kern der deutsch-französischen Aussöhnung.

Zwar sind die Interessen unserer Länder nicht automatisch und von Natur aus gleich gelagert - das müssen wir uns stets aufs Neue vor Augen führen, und wir müssen immer wieder neu ansetzen, in dieser oder jener Frage zum Ausgleich zu kommen. Aber keine Partnerschaft zwischen zwei Ländern hat dafür bessere Instrumente und Voraussetzungen als die deutsch-französische, und auch das ist eine Leistung des Elysée-Vertrags.

III.

Die deutsch-französische Freundschaft ist Teil unseres nationalen und unseres europäischen Selbstverständnisses geworden. Das zeigt sich in unserem Bestreben, gemeinsam der Motor eines vereinten Europas zu sein. Nicht nur wir selber sehen uns so: Auch unsere Partner wissen, wie wichtig es ist, dass Deutschland und Frankreich gemeinsam vorangehen, damit das europäische Einigungswerk gelingt.

Die deutsch-französische Freundschaft ist Vorbild geworden für andere Bemühungen, die Schrecken der Vergangenheit zu überwinden und an die Stelle historisch gewachsenen Misstrauens gelebte Freundschaft zu setzen. Das gilt für die deutsch-polnische Aussöhnung, die sich von der deutsch-französischen Erfolgsgeschichte hat inspirieren lassen.

Das alles haben wohl Charles de Gaulle und Konrad Adenauer nicht zu träumen gewagt - bei allem Respekt für ihre Visionen. Heute ist es unsere - vergleichsweise leichte - Aufgabe, die "Sensation der Normalität" zu pflegen und gemeinsam den europäischen Weg zu gehen, der Franzosen und Deutsche in eine gute Zukunft führt. Das kann uns gelingen mit der Hilfe Ihrer aller, die Sie heute hier sind, und die diesen Tag mit Präsident Chirac und mir, stellvertretend für die vielen Millionen Menschen begehen - ja, es sind Millionen! - die sich für die deutsch-französische Freundschaft engagiert haben und noch engagieren.

Ich bitte Sie daher, mit mir das Glas zu erheben und auf das Wohl der deutsch-französischen Freundschaft zu trinken und auf unsere gemeinsame Zukunft als Nachbarn und als Motor eines Europa, das Gewicht hat in der Welt und das sich einsetzt für Frieden, für Gerechtigkeit, für die Menschenrechte und für die Bürgerrechte überall auf der Welt.

Liberté, égalité, fraternité, das bleibt ein Auftrag und ist noch lange keine Beschreibung unserer Welt, wie sie jetzt ist.

Erlauben Sie mir, auch wenn ich selber wenig zum Pathos neige, heute mit ähnlichen Worten zu enden, wie sie Charles de Gaulle in seinen Reden während seines Staatsbesuchs in Deutschland 1962 so oft gesagt hat:

Es lebe Frankreich, es lebe Deutschland, es lebe die deutsch-französische Freundschaft, und es lebe Europa!