Weihnachtsansprache 2003 von Bundespräsident Johannes Rau an die Deutschen im Ausland

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 25. Dezember 2003

Bundespräsident Johannes Rau und Frau Christina Rau

Liebe Landsleute in aller Welt,

wo immer Sie mir jetzt zuhören oder zusehen: Von ganzem Herzen wünschen meine Frau und ich Ihnen allen hier von Berlin aus ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest.

Je nachdem, in welchem Teil der Welt Sie leben, feiern Sie Weihnachten ganz anders, als wir in Deutschland es gewohnt sind. Daran musste ich auch denken, als ich auf einer Reise nach Lateinamerika vor kurzem sah, wie die Straßen mit Weihnachtsdekoration geschmückt waren - bei strahlendem Sonnenschein und bei 30 Grad Hitze.

Ganz gleich, ob Sie Weihnachten bei sommerlichen oder bei winterlichen Temperaturen feiern: es bleibt ein Fest, das uns in besonderer Weise miteinander verbindet. Wir denken aneinander, wir beschenken uns, wir rufen uns an - und ich kann mir denken, dass Sie, gerade wenn Sie schon seit langem im Ausland leben, in diesen Tagen mit ihren Gedanken in der Heimat sind, bei Familienangehörigen und Freunden.

Bei meinen Reisen ins Ausland treffe ich oft Deutsche, die dort heimisch geworden sind, manchmal schon seit Generationen. Ich weiß wie viel Sie zum Aufbau der jeweiligen Gesellschaft beitragen, dass Sie hoch geschätzt werden und ein gutes Bild von Deutschland zeigen.

In diesen weihnachtlichen Tagen werden den meisten von uns einige Augenblicke der Besinnung geschenkt. Wir schauen dann auf Vergangenes und blicken auf das, was wohl kommen mag.

Zuerst denkt wohl jeder an das, was in seinem privaten Leben geschehen ist. Mancher durfte das Glück erleben, einen Partner zu finden, Eltern durften sich freuen über die Geburt eines Kindes. Andere wiederum haben einen nahen Menschen verloren durch Trennung oder Tod. Eltern machen sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder. Manche von Ihnen werden in Ihrer neuen Heimat starke Wurzeln geschlagen haben, andere mögen sich noch immer fremd fühlen. Vielen ist ein neuer Anfang geglückt.

Wir schauen aber auch über unser privates Leben hinaus - auf das öffentliche und politische Geschehen.

Als im März der Irakkrieg begann, waren viele Menschen in aller Welt erschüttert und entsetzt. Wir freuen uns über das Ende einer schrecklichen Diktatur - aber wir sehen wieder einmal, dass mit Waffen und militärischer Überlegenheit allein die Probleme der Welt nicht zu lösen sind. Friede kommt nicht mit Gewalt.

Gewiss gibt es Situationen in denen wir Freiheit und Recht auch mit Waffen verteidigen und schützen müssen.

Deswegen danke ich allen Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen und Polizisten, auch den vielen zivilen Helferinnen und Helfern, die, oft weit weg von zu Hause, ihren Dienst leisten für Frieden, für Menschenrechte und für den Schutz vor Terror und Gewalt. Sie geben Menschen Schutz und Sicherheit, sie helfen beim Aufbau von Infrastruktur, sie leisten medizinische Hilfe und vieles mehr. Sie sind wichtige Botschafter unseres Landes. Wir denken an Sie und grüßen Sie alle, gemeinsam mit Ihren Familien und Freunden.

Einige haben im vergangenen Jahr ihren Einsatz mit dem Leben bezahlt. Wir behalten sie in dankbarer Erinnerung. Denen, die an schweren Verletzungen leiden, wünsche ich baldige Genesung.

Bei uns in Deutschland haben wir im vergangenen Jahr viele Debatten geführt, die sich um tiefgreifende Veränderungen der Gesellschaft gedreht haben.

Vielleicht sehen Sie vom Ausland aus unsere Probleme mit anderen Augen. Sie werden aus eigener Erfahrung wissen, dass Deutschland im internationalen Vergleich gut abschneidet. Aber die Menschen bei uns wissen, dass wir große gemeinsame Anstrengungen brauchen, damit das auch so bleibt.

Bei allen nötigen Anstrengungen dürfen wir nicht in den Fehler verfallen, unser gesamtes gesellschaftliches Leben immer mehr von den Mustern von Wirtschaftlichkeit und Effizienz bestimmen zu lassen.

"Bilanz", "Kapital", "Ressource": Das sind Begriffe, die in der Wirtschaft unverzichtbar sind. Aber sie gehören nicht in jeden anderen Lebensbereich. Sonst wird selbst in Familien, in Partnerschaften und bei Kindern gerechnet: Was kostet mich das, was bringt mir das?

Ich glaube: Wenn wir alle Lebensbereiche nur noch nach wirtschaftlichen Gesetzen formen, geraten wir in eine Sackgasse. Dadurch verfehlen und verpassen wir wesentliche Dinge im Leben.

Familien zum Beispiel sind keine Betriebe. Familien leben vom Zeithaben füreinander, vom Austausch und Feiern, von Gespräch und Verständnis und vom Verzeihen.

Eine Gesellschaft lebt von Flexibilität und Wagnis, von Neugier und Aufbruch. Eine Gesellschaft lebt auch von Treue und gegenseitigen Verpflichtungen, von Solidarität, Engagement und Hingabe. Das gilt überall auf der Welt.

In diesem Jahr haben Millionen Deutsche im Kino den Film "Das Wunder von Bern" gesehen. Er zeigt, wie in Deutschland mit dem Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 ein neues Selbstbewusstsein wuchs. Der Film wird bald auch in vielen anderen Ländern zu sehen sein, ich hoffe, auch bei Ihnen. Er erzählt in seiner Geschichte übrigens auch davon, dass wir bei aller Leistungsbereitschaft, bei allem Können, bei aller Anstrengung auch auf den glücklichen Zufall angewiesen sind oder die glückliche Fügung, die dazu kommen muss, damit etwas gelingt.

Von einem noch einmal ganz anderen Wunder - dem Wunder schlechthin - erzählt in jedem Jahr das Weihnachtsfest.

Was hier erscheint, ist das, was wir nicht erwarten und nicht selber machen können. Es ist die Botschaft von der Nächstenliebe und vom Frieden auf Erden, dem äußeren Frieden und dem inneren. Weil es ein Wunder ist, also nie selbstverständlich, darum feiern wir es jedes Jahr aufs Neue - überall auf der Welt.

Meine Frau und ich wünschen Ihnen und uns allen, dass die Botschaft von Weihnachten, vom Frieden in der Welt und vom Frieden in uns, immer wieder Wirklichkeit wird - im Kleinen und im Großen, wo immer wir leben.