Weihnachtsansprache 1995 von Bundespräsident Roman Herzog

Schwerpunktthema: Rede

25. Dezember 1995

Ihnen allen, die Sie in unserem Lande leben, wünsche ich ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest.

In unseren Wohnzimmern und an vielen anderen Plätzen strahlt heute der Christbaum, und die Weihnachtskrippen, die es in vielen Häusern gibt, erinnern uns an die biblische Geschichte von dem heiligen Paar, das in einem Stall unterschlüpfen mußte, weil es fern seiner Heimat war.

Die Unsicherheit, in der sich diese Familie befand, verstehen wir vielleicht besser als manche früheren Generationen. Die Älteren von uns haben selbst erlebt, was Vertreibung und Heimatlosigkeit bedeutet. Die Jüngeren erfahren es fast täglich aus den Fernsehberichten, die uns aus Ex-Jugoslawien, aus Ruanda und vielen anderen Ländern erreichen. Und letzten Endes sind wir doch alle unbehaust in den Veränderungen, die neue politische und gesellschaftliche Probleme, neue technische Entwicklungen, Globalisierungsvorgänge und anderes mehr mit sich bringen. Wer von uns weiß eigentlich noch, was das alles für ihn, für seine Kinder und Enkel, für unser ganzes Volk bedeutet?

Das erste, was ich Ihnen heute sagen möchte, ist deshalb: Ich wünsche uns allen den Mut, trotz allem vertrauensvoll in die Zukunft zu gehen. Unsere Vorfahren haben diesen Mut gehabt, und es wäre schlimm, wenn wir, mit unseren großen Möglichkeiten, ihn nicht mehr aufbrächten.

Und das zweite, was ich sagen möchte, ist: Es gibt in unserer Welt, in unserem Land auch vieles, was Halt verspricht. Ich denke da nicht zunächst an Unternehmensbilanzen und Zuwachsraten, sondern an die vielen Zeichen der Mitmenschlichkeit, die ich sehe oder von denen ich zumindest höre. Ich denke an die Mütter und Väter, die kranke oder behinderte Kinder nicht abschieben, sondern sich selbst um sie kümmern. Ich denke an die Menschen, die ihre hilfsbedürftigen Eltern nicht im Stich lassen, an die Ehepartner, die die Arbeitslosigkeit ihres Mannes oder ihrer Frau mittragen. Ich denke an die, die sich für ihre Arbeitskollegen oder Mitschüler, für Vereins- oder Sportkameraden, für ihr Dorf oder ihren Stadtbezirk einsetzen. In den Schlagzeilen tauchen solche Menschen nur selten auf. Aber es sind gerade sie, ohne die es in unserem Lande viel kälter wäre.

Und denken wir daran,: Mitmenschlichkeit fängt im Kleinen an, mit einem Lächeln oder einer ausgestreckten Hand, ja schon mit dem Unterlassen einer der üblich gewordenen Rücksichtslosigkeiten - am Arbeitsplatz, beim Einkauf oder im Straßenverkehr. Aber es gäbe noch viel mehr zu tun, im Großen wie im Kleinen. Dazu nur zwei Beispiele: Im Augenblick gibt es auf unserer Erde etwa 100 Millionen Menschen, die auf der Flucht sind, und 800 Millionen - davon ein Viertel Kinder -, die täglich Hunger leiden müssen, und wenn uns die Statistiker auch sagen, das seien weniger als vor 25 Jahren, so sind es doch immer noch viel zu viele. Und auf der anderen Seite, im Kleinen: Es gibt auch unter uns verborgene Not, sowohl im Wirtschaftlichen als auch im Seelischen. Viele von uns sind einsam, manche fürchten sich sogar vor einem Tag wie dem heutigem, weil sie ihr Alleinsein nicht mehr ertragen können.

Auch hier kann Mitmenschlichkeit helfen, und hier kommt es besonders auf den Einzelnen an. Oft reicht es schon aus, einem einsamen, in sich verkapselten Menschen einfach zuzuhören. Ich weiß auch, daß dafür mitunter viel Geduld, ja sogar Toleranz vonnöten ist; denn manche Einsamkeit ist ja auch auf Fehler des Einsamen selbst zurückzuführen. Aber solche Geduld lohnt sich dann meistens auch: Allmählich öffnet sich der Gesprächspartner und belohnt einen mit wachsendem Vertrauen, ja mit Freundschaft.

Und außerdem: Selbst wenn es dazu nicht kommt - man kann aus jedem Gespräch, bei dem man selbst nicht dauernd redet, sondern ganz einfach zuhört, unendlich viel erfahren und lernen. Ich kann das in meinem Amt von der entgegengesetzten Seite her erleben. Wie oft möchte ich an einer Veranstaltung nur teilnehmen und den Menschen zuhören. Und dann bestürmen mich die Veranstalter, ich solle zu ihrem Thema doch das Wort ergreifen und möglichst etwas Richtungweisendes sagen. Aber wie soll ich denn richtungweisende Ideen haben, wenn man mich vorher nicht auf die Sorgen und Probleme der Beteiligten hören läßt? Ich rate Ihnen: Lassen Sie sich auf dieses Spiel nicht ein! Hören Sie zu, ehe Sie urteilen! Ich werde mir diesen Freiraum auch wieder schaffen.

Dem Frieden und der Mitmenschlichkeit wäre auch sehr gedient, wenn wir mit unserer Sprache sorgfältiger und menschlicher umgingen, als wir es gelegentlich tun. Wie leicht fällt es uns beispielsweise, andere kurzerhand als Lügner und Betrüger, als Verbrecher oder Mörder zu bezeichnen, nur weil wir die Lust zum Verletzen oder zumindest zum Übertreiben verspüren? Und seien wir ehrlich: Das passiert nicht nur den so oft gescholtenen Politikern, sondern es unterläuft uns allen, in Ehestreitigkeiten, am Stammtisch, in Vereinsversammlungen. Dem Frieden unter uns ist das nicht dienlich, und wohin es führen kann, haben wir erst vor wenigen Wochen wieder erlebt, beim Tod des israelischen Ministerpräsidenten Itzhak Rabin, der ein mutiger Kämpfer für den Frieden war und genau deshalb ermordet worden ist. Da hatten Menschen, die gegen seine Politik waren, nicht genug verbale Verdammungen hinausschreien können, und einer, der sie wörtlich nahm, hatte dann zur tödlichen Waffe gegriffen. Aber ich sage heute auch: Rabins Werk hat uns alle ermutigt. Es ist ein Grund dafür, daß ich an neue, bessere Wege des Zuammenlebens der Menschen glaube.

Denn: "Frieden auf Erden", das ist nicht nur die Pflicht, die uns das Weihnachtsfest auferlegt, sondern es ist auch die Verheißung, die es uns zuspricht. Wir müssen uns nur darum bemühen.

In diesem Sinne wünschen meine Frau und ich Ihnen allen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest.