Rede von Bundespräsident Roman Herzog anläßlich der Veranstaltung "150 Jahre Revolution von 1848/49" in der Paulskirche zu Frankfurt am Main

Schwerpunktthema: Rede

Frankfurt am Main, , 18. Mai 1998

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.


1848 begann in Deutschland eine neue Zeit. Auch wenn es danach schwere Rückschläge gab: Was hier begann, war auf die Dauer nicht mehr rückgängig zu machen. Das Jahr 1848 war nicht nur der bleibende Anfang der deutschen Demokratiegeschichte - es war auch eine entscheidende Wendemarke auf dem Weg zum modernen, demokratischen Europa. Denn anders als 1789 war 1848 das Jahr einer wirklich europäischen Bewegung. An vielen Orten und in vielen Sprachen erscholl damals der Ruf nach Partizipation, nach Grundrechten, nach Freiheit. Es wehte der Wind eines Wandels, der die Völker Europas nicht nur veränderte, sondern auch auf neue Weise miteinander verband.

Bleiben wir aber zunächst beim deutschen Teil der Geschichte. Ehe hier, an diesem Ort nüchterner Würde, das Paulskirchen-Parlament zusammentreten konnte, hatte es in Deutschland etwas gegeben, das man seit 1789 zwar kannte, das aber eher mit Furcht und Schrecken genannt wurde: eine Revolution. Es war zwar eine kleine, auch eine weniger blutige und weniger radikale Revolution als 1789 - aber daß es sich tatsächlich um eine Revolution handelte, war doch allen Zeitgenossen klar. I.

Es kam einiges zusammen, um den revolutionären Funken zu zünden. Da gab es die Unzufriedenheit der geistigen Eliten mit Zensur, Bevormundung und Unterdrückung, es gab Haft und Kerker für freie Gedanken und ihre öffentliche Artikulation; da gab es, vor dem Hintergrund des herannahenden Industriezeitalters, die soziale Frage; es gab das allgemeine Gefühl, daß die alten Strukturen der neuen Zeit nicht gewachsen waren, und es gab die mächtige Idee, nur ein einiges Deutschland könne Freiheit und Demokratie schaffen und garantieren.

Auf der einen Seite standen die modernen Ideen und aufstrebenden Kräfte des Bürgertums, auf der anderen Seite herrschten aber Geburtsadel und Erbmonarchie, also politische Vorstellungen aus dem tiefsten Gestern. Auf der einen Seite ließen die Anfänge von Eisenbahn, Telegraphie und Schnellpresse die Welt zusammenwachsen, auf der anderen Seite gab es im Deutschen Bund über 30 mehr oder weniger souveräne Staaten. Die Gesellschaft war voller Aufbruch und Veränderung, voller Krisen und wachsender sozialer Not. Die politischen Mächte des Jahres 1848 aber waren rückwärts gewandt und ideenlos.

Natürlich: Die großen Ambitionen, mit denen man 1848 ans Werk ging, haben sich zunächst nicht erfüllt. Die Revolution ist letztlich gescheitert, die demokratische Gestalt eines einigen Deutschland hat noch lange auf ihre Verwirklichung warten müssen.

Und doch wies das Jahr 1848 weit in die Zukunft. Die "Paulskirche" ist das eine große Symbol für das Streben der Deutschen nach Einigkeit und Recht und Freiheit, und erst heute können wir hinzufügen: der Fall der Berliner Mauer 1989 ist das andere. Beides sind Sternstunden deutscher Geschichte, mit denen wir sorgfältig umgehen müssen; sie dürfen nicht in der Routine verordneten Gedenkens versinken. Das Zusammentreten des ersten, freigewählten deutschen Parlamentes vor 150 Jahren ist ein Moment in unserer oft so schwierigen Geschichte, auf den wir uns ohne Einschränkung berufen können, auch wenn wir heute über die Zukunft von Staat und Demokratie nachdenken.

Wenn wir uns - zum Beispiel - daran erinnern, mit welchem Glanz Frankreich das Jubiläum von 1789 gefeiert hat, obwohl an dieser Revolution weiß Gott nicht alles Gold war, dann kann man eigentlich nicht begreifen, warum die Geburtsstunde der deutschen Demokratie bei uns nicht zu dem gleichen stolzen Gedenken führt. Müssen wir immer gleich alles perfekt haben? Oder fallen wir gar auf das Bild herein, das sich andere von uns und unserer Geschichte machen?

Noch lange nach Gründung der Bundesrepublik geisterte die Parole durch die Welt, die Deutschen könnten von sich aus kein demokratisches Gemeinwesen schaffen, sie hätten es sich - im Westen - erst von den Siegern nach dem Zweiten Weltkrieg aufdrängen lassen müssen. Natürlich ist daran manches Wahre, aber zum Teil sind wir an diesem Klischee auch selbst schuld. Ich meine damit nicht nur das Scheitern von Weimar, das in die nationalsozialistische Diktatur führte. Ich meine auch die seltsame Traditionsvergessenheit, durch die die demokratischen und parlamentarischen Tendenzen der deutschen Geschichte immer wieder verschüttet worden sind.

Zugegeben: Die Freiheitsgeschichte unseres Volkes war oft eine Geschichte von Verlierern, von Versuchen, Irrtümern und auch Niederlagen. Und wir können uns unsere Vergangenheit nicht aussuchen. Aber wir können für unser eigenes Selbstbewußtsein, für die Identität unseres Gemeinwesens sehr wohl auswählen, auf welche Traditionen wir uns berufen und an welche wir anknüpfen wollen. 1848 ist dafür der Schlüssel: Damals sind die Prinzipien formuliert worden, die noch heute die Grundlagen unserer staatlichen Existenz ausmachen: Das Bekenntnis zu Menschenrechten und Demokratie und der gemeinsame Wille, die verschiedenen Regionen und Strömungen in unserem Land zu einem freien Gemeinwesen zu vereinigen.

1848 gibt uns das Recht, mit Selbstbewußtsein zu sagen: Die demokratische Idee, die Ideen der Freiheit, der Menschen- und Bürgerrechte sind auch ein Teil der deutschen Tradition - auch wenn sie sich erst später wirklich durchgesetzt haben.

Manche Deutsche haben diese Tradition freilich im Ausland repräsentieren müssen. Für einige der 1848er stehen die Denkmäler, die eigentlich in unseren Städten stehen müßten, in Amerika. Die Enttäuschten und Vertriebenen mußten die Gedanken und Impulse von 1848 aus Deutschland mit über den Atlantik nehmen. Einer der Rebellen, Carl Schurz, brachte es in Amerika, nicht in Deutschland, zum Innenminister, und der Revolutionsführer Gustav von Struve wurde General der Unionsarmee im amerikanischen Bürgerkrieg. In Paris soll man nach der Juli-Revolution 1830 an die 40 000 Deutsche gezählt haben. Sie alle haben im Vollzug ihres politischen Engagements gezeigt, daß Heimat von Demokraten nur eine freiheitliche Demokratie sein kann.

Die deutsche Urverfassung mit ihren Gedanken von Freiheit und Gleichheit, Gewährung bürgerlicher Rechte, Presse- und Versammlungsfreiheit, aber auch von Gewaltenteilung und konstitutioneller Monarchie ist in einem geistesgeschichtlichen Dialog quer durch Europa entstanden, ja sogar über den Atlantik hinweg. Montesquieu und Kant, John Locke und Jefferson haben Denken und Recht eben nicht nur in ihrer jeweiligen Heimat beinflußt. Grenzen - auch Sprachgrenzen - konnten ihre Ideen nicht aufhalten: Ohne Amerika, Frankreich, England, Belgien, die Schweiz und Polen ist die Freiheitsgeschichte des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht zu schreiben. Aber eben auch nicht ohne Deutschland.

Die Demokratie, die 100 Jahre nach der Paulskirche im Gefolge französischer, britischer und amerikanischer Soldaten bei uns wieder Einzug halten sollte, mußte in den Ruinen des Deutschlands von 1945 also nicht gleichsam auf fremdem Boden Wurzeln schlagen. Von 1848 an gehören die Ideen von Demokratie, Verfassung und Teilhabe am politischen Leben auch zum Erbe unserer historischen Erfahrung.

Die Freiheitsgeschichte Europas war stets eine übernationale Angelegenheit - auch wenn sie sich meist über die Grammatik nationalen Denkens zu realisieren begann: Die französische Revolution mit ihrem Bekenntnis zu den Menschenrechten und dem aufwühlenden, fast verzweifelten Ringen um eine neue soziale Balance, die englische Chartisten-Bewegung mit ihrem Schlachtruf "One man, one vote", die belgische Revolution, die die Versöhnung liberaler und kirchlicher Ideen unternahm, die Aufstände in Polen, die Europa geradezu mit Ehrfurcht verfolgte, der deutsche Vormärz mit seinen rebellischen Dichtern und Professoren, mit Heine und Börne, Freiligrath und Werth, mit den "Göttinger Sieben" und mit Hoffmann von Fallersleben. Der Ruf nach Freiheit erscholl quer durch Europa.

Heute, am Beginn der größten Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union, geht es letzten Endes um die Frage, was uns als Bewohner dieses Kontinents verbindet und was die EU als Schicksals- und Solidaritätsgemeinschaft begründet. Die gemeinsame Tradition der Freiheitsbewegungen, die seit 1848 die europäischen Staaten verband, war und ist auch heute das geistige Fundament des vereinten Europa.

II.

Die Paulskirchen-Verfassung war nicht nur eines der fortschrittlichsten Verfassungsdokumente ihrer Zeit. Sie wurde auch zur Urahnin aller nachfolgenden deutschen Verfassungen. Ganz bewußt knüpfte der Parlamentarische Rat 100 Jahre später an den Grundrechtkatalog der Paulskirche an und übernahm vieles daraus, sogar wörtlich. Das allgemeine Wahlrecht, wie eingeschränkt es in einzelnen deutschen Ländern 1848 auch gehandhabt wurde, beschleunigte den Durchbruch des demokratischen Prinzips, hinter das auf lange Sicht kein absolutistisches Denken mehr zurückfallen konnte.

Zu einer historischen Einordnung der Paulskirchenverfassung gehört freilich nicht nur ihr Vorbildcharakter für heutige politische Konstitutionen. Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört auch, auf solche Aspekte zu verweisen, die an unsere heutigen Maßstäbe nicht heranreichten. Jeder, der die Texte mit wachem Auge liest, wird Schwierigkeiten damit haben, das Werk der Paulskirche als eine nach unseren heutigen Ansprüchen perfekte demokratische Verfassung zu erkennen. Das soll kein schiefes Licht auf ihre damalige Modernität und ihre Rechtsstaatlichkeit werfen.

Aber so wegweisend die Verfassung der Paulskirche war, so sehr war sie auch ihrer Zeit verhaftet. Nach der Frankfurter Verfassung sollte beispielsweise die politische Musik nicht primär beim Parlament, sondern bei der Spitze der Exekutive spielen. Sie war also, wie wir heute sagen würden, eine "konstitutionelle" Verfassung, wie viele andere ihres Jahrhunderts auch, nach der die Exekutive nicht etwa demokratisch verankert war, sondern durch einen Erbmonarchen an der Spitze repräsentiert werden sollte.

Am deutlichsten werden die Unterschiede, wenn wir uns die Gewichteverteilung zwischen dem Parlament und dem "Reichsoberhaupt", also dem Kaiser ansehen. Die Paulskirche kannte zwar ein Parlament, aber sie konstituierte damit keineswegs ein parlamentarisches Regierungssystem, wie es seither in fast allen demokratischen Staaten Eingang gefunden hat. Nicht nur, daß der Kaiser jederzeit das Volkshaus auflösen konnte; er hatte außerdem das alleinige Recht, die Minister zu ernennen und sie folgerichtig auch wieder zu entlassen. Die Zustimmung des Reichstages benötigte er dazu ebensowenig, wie dieser das Recht hatte, die Minister durch Mißtrauensvotum zu stürzen. Zwar war für jedes Gesetz und jede Regierungshandlung des Kaisers die Gegenzeichnung eines Reichsministers nötig, doch waren diese, wie gesagt, in völliger Abhängigkeit vom Kaiser, der sie auch entlassen konnte, wenn sie ihm eine Gegenzeichnung verweigerten. Somit blieb als schärfste Waffe des Parlamentes nur das Budgetrecht. Ein einflußreicher Bestandteil der Verfassung und zweifellos ein großer Schritt in Richtung eines modernen Parlamentarismus, aber - an heutigen Verhältnissen gemessen - doch nur ein Schritt.

Ich möchte noch auf einen anderen Unterschied zwischen der Paulskirchenverfassung und unseren modernen Verfassungen hinweisen: Soziale Fragen wurden in der Paulskirche zwar diskutiert, mögliche Konzepte zu ihrer Lösung schlugen sich im Text der Verfassung jedoch keineswegs nieder.

Dabei waren Arbeitslosigkeit und soziale Notlage längst erkannte Probleme. Erinnern wir uns: 1848 war auch das Jahr, in dem das Kommunistische Manifest erschien. Und Gustav von Struve verfaßte eine Petition über "Wohlstand, Bildung und Freiheit für Alle". Struve und Marx gaben damit die Stichworte für die kommende große Auseinandersetzung zwischen Marktwirtschaft und Kommunismus vor, die die Welt für mehr als 100 Jahre in Atem halten sollte. In der Paulskirchenverfassung aber fand das alles noch keinen Niederschlag.

Wir dürfen nicht vergessen: Die Abgeordneten der "Paulskirche" waren die Elite des klassischen Bürgertums: Staatsanwälte und Richter, Rechtsanwälte, Universitätsprofessoren, Vertreter wirtschaftlicher Berufe, nur wenige Handwerker, ein einziger Bauer und kein einziger Arbeiter; an die Präsenz von Frauen dachte schon überhaupt niemand. Die Verfassungsdiskussion, die deshalb recht einseitig die Interessen einer kleinen bürgerlichen Schicht widerspiegelte, verlor auf diese Weise die breite Zustimmung und die Begeisterung, die sie dringend gebraucht hätte. Das lehrt: eine halbe Freiheit ist zu wenig. Auch den, der zu kurz greift, bestraft das Leben.

Und noch ein Unterschied zu heute springt sofort ins Auge: Viele Fragen, die heute selbstverständlich durch Gesetze geregelt werden, wurden damals noch gar nicht als Herausforderung an den Staat verstanden. Wenn in der Paulskirche von Gesetzen die Rede war, dachte niemand an Sozialhilfe und Sozialversicherung, an Landesplanung und Schulpolitik, an Landschaftspflege und Denkmalschutz, nicht einmal an Arbeitsrecht und Arbeitsschutz. Zu Recht verlangen wir heute im Gewirr staatlicher Aufgaben und Mitspracherechte einen schlankeren Staat. Der Staat, der den 1848ern vorschwebte, war nach heutigen Erfahrungen aber nicht schlank - er war mager. Und doch bleibe ich dabei: 1848 war der Anfang von vielem, was wir heute für richtig halten und genießen - oft ohne es richtig zu würdigen.

III.

Damit sind wir bereits in der Gegenwart angekommen. Wir feiern die erste demokratische Verfassung - und erleben gerade in diesen Tagen, daß unter unseren Mitbürgern Zweifel an Demokratie und sozialer Marktwirtschaft zunehmen. Erschreckend viele verlieren allmählich das Vertrauen in die Lösungskompetenz des Staates. Ein über die Jahre gewachsenes Unbehagen an der Politik droht in Abwendung vom demokratischen System insgesamt umzuschlagen.

Es ist schlimm, wenn manche Bürger meinen, ruhig einmal radikale Parteien wählen zu können, nur um Protest auszudrücken. Wer aber glaubt, sich aus Unzufriedenheit einen vorübergehenden Flirt mit den Gegnern der Demokratie leisten zu können, der spielt buchstäblich mit dem Feuer. Das Spiel, in dem sich linker und rechter Extremismus gegenseitig die Stichworte und Begründungen liefern, hat schon einmal eine deutsche Demokratie zerstört.

Zu den Ursachen von Unzufriedenheit und Protest gehört in erster Linie natürlich die Massenarbeitslosigkeit, die den Menschen Hoffnung und Perspektive nimmt. Aber machen wir uns nichts vor: Es sind nicht nur die Arbeitslosen, die sich abwenden.

Gesellschaftliche Entwicklungen, die wir alle kennen, lassen das Verhältnis der Menschen zu Staat und Demokratie nicht unberührt: Institutionen, die traditionell Gemeinsinn und Gemeinsamkeit stifteten, wie Familien und Kirchen, Gewerkschaften und Parteien, haben diese Bindungskraft mehr und mehr verloren. Unsere Gesellschaft muß mit neuen Konflikten fertig werden: Die Massenarbeitslosigkeit hat materielle Not und Perspektivlosigkeit in unsere Gesellschaft zurückgebracht. Millionen von Menschen, die in den letzten Jahrzehnten aus aller Welt zu uns gekommen sind, stehen unserer Gesellschaft oft auch nach Jahren noch fremd gegenüber. In einer Zeit, deren äußeres Kennzeichen der organisierte Egoismus zu sein scheint, schwinden gemeinsame Überzeugungen und Werte.

Hier stellen sich Fragen: Wie muß sich der Staat heute verstehen? Ist er in erster Linie Hüter und Hort für Freiheit und Sicherheit seiner Bürger? Oder ist er, wie es die vergangenen Jahzehnte nahelegen, vor allem ein Dienstleister, der Autobahnen, Schulen und soziale Leistungen zur Verfügung stellt? Wie kann er den notwendigen sozialen Ausgleich organisieren? Wieviel Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Gefühl von Ungerechtigkeit hält er noch aus?

Man soll historische Analogien nicht überstrapazieren. Aber wenn ich mir vor Augen halte, was ich zu Beginn über die Situation vor 1848 gesagt habe, so sehe ich doch auch bemerkenswerte Parallelen zwischen damals und heute. Heute wie damals stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Ära: seinerzeit zur Ära der Industriegesellschaft, heute zur Ära der Informationsgesellschaft. Und: Damals ging es um die Errichtung des demokratischen Nationalstaats, heute um den Bau des geeinten, demokratischen Europa.

Damals wie heute begann die Entwicklung mit technischen Neuerungen, die wirtschaftliche Veränderungen nach sich zogen und schließlich auch erzwangen; die Folge waren dann gesellschaftliche Umbrüche, die ihrerseits die Frage aufwarfen, ob das politische System noch zeitgemäß war. Und genau hier, bei der Rolle der Politik, bei der Funktion des Staates im Veränderungsprozeß, sehe ich den notwendigen Unterschied zwischen damals und heute. Damals erwies sich der Staat, wie das Scheitern der Paulskirche zeigt, als ein Bremser des Wandels. Heute muß er Katalysator und zugleich Moderator des Umbruchs sein.

Worauf kommt es dabei an? Welche Anforderungen muß das demokratische System heute erfüllen? Ich nenne nur drei:

Erstens: Demokratie lebt von Transparenz und sichtbarer Verantwortung. Unsere hochkomplexe Gesellschaft kommt zwar ohne den regelnden und ausgleichenden Eingriff des Staates nicht aus. Aber sind wir hier nicht längst zu weit gegangen? Haben wir nicht, um auch für jeden Einzelfall noch die "richtige" Lösung zu finden, Regelwerke geschaffen, die nur noch von Spezialisten, nicht aber vom betroffenen Bürger selbst verstanden und durchschaut werden können?

Wenn aber der Sinn staatlicher Regelungen im einzelnen nicht mehr nachvollzogen werden kann, schwindet auch die Akzeptanz des Ganzen. Und, was genau so schlimm ist: es schwindet die Bereitschaft, Verantwortung für das Gemeinsame zu übernehmen. Das gilt vor allem für Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Im gegenwärtigen Zuständigkeitsgestrüpp wird es immer schwerer, politische Verantwortung an handelnden Personen festzumachen. Die Frage: "Wer verantwortet was?", läßt sich kaum noch beantworten; jeder bildet sich ein, für alles zuständig zu sein, und jede politische Ebene kann überall ein wenig mitbestimmen und mitmischen. Wir brauchen einfachere, überschaubarere Strukturen und Regelungen. Weniger kann mehr sein - auch bei Normen und Zuständigkeiten.

Ein Zweites: Demokratie heißt, mitentscheiden zu können. Es ist ein Alarmsignal, wenn viele den Eindruck haben, mit ihren Wahlentscheidungen die wirklich wichtigen Dinge nicht mehr beeinflussen zu können. Dazu kommt die schon alltägliche Erfahrung, daß wichtige Entscheidungen heutzutage in Brüssel oder noch weiter weg, in den Gremien des IWF und anderer internationaler Institutionen, gefällt werden. Im Zeitalter der Globalisierung zieht der demokratisch legitimierte Staat gegenüber den Kräften der globalen Märkte tatsächlich oft den kürzeren. Geld, das von anonymen Brokern oder Devisenhändlern in Sekundenschnelle digital um den Globus gelenkt wird, kann in kurzer Zeit Währungen ruinieren, Regionen in den Abgrund stürzen - oder auch zur Blüte bringen.

Zugespitzt kann man fragen: Inwieweit kann man heute noch von demokratischer Kontrolle sprechen, wenn wir wesentliche Fragen unserer Existenz dem Anschein nach überhaupt nicht mehr beeinflussen können? Der Wunsch der Menschen nach Mitbestimmung ist aber das Herzstück der Demokratie. Alle müssen wieder das Gefühl bekommen: "Politik ist machbar!"

Drittens: Demokratie ist gewiß zuerst eine Sache der Vernunft - aber sie ist auch eine Sache des Herzens. Das wichtigste Erbe von 1848 ist der Wille zu Freiheit, Demokratie und politischer Mitverantwortung. Dieser beständige Wille ist durch nichts zu ersetzen. Noch die beste Verfassung bleibt bloßes Papier, wenn die Menschen nicht zur politischen Mitgestaltung bereit sind, und ich füge hinzu: wenn die Bürger nicht mehr davon überzeugt sind, auch tatsächlich in der Pflicht zu stehen. Die geistige Heimat von Demokraten ist die demokratische Freiheit. Aber der Effekt dieser Freiheit verpufft, wenn der Bürger nichts mehr aus ihr macht, was ihn selbst voranbringt und womit er vor allem auch dem Mitbürger und damit der Gemeinschaft nützt.

Was muß geschehen?

Zum einen: Demokratie muß auf allen Ebenen verankert werden. Nicht nur auf kommunaler oder regionaler Ebene, nicht nur auf der Ebene des nationalen Staates, sondern auch - und das ist die neue Aufgabe der Gegenwart - auf der internationalen Ebene. Und zum anderen: wir müssen uns sehr präzise darüber verständigen, welche staatlichen Aufgaben künftig auf welcher Ebene wahrgenommen werden sollen.

Über jede dieser Ebenen möchte ich kurz nachdenken. Erstens: Europa. Gerade heute, unmittelbar vor der Einführung der europäischen Währung, zeigen sich viele Menschen besorgt und beunruhigt. Ich will jetzt nicht über die Stabilität der neuen Währung reden, die ich für sicher halte. Aber abseits von allen wirtschaftlichen Vorteilen sollten wir nicht übersehen: die europäische Integration gibt der Demokratie eine ganz neuartige Chance. Nur als Teil Europas haben die einzelnen Völker heute noch genügend Gewicht, um bei großen Entscheidungen wirklich mitzuwirken: bei der Ordnung der Weltwirtschaft, der Sicherung des Friedens, bei Fragen des globalen Umweltschutzes. Nur im geeinten, demokratischen Europa haben die Bürger eine Chance, auch die überstaatlichen Entwicklungen wieder zum Gegenstand demokratischer Entscheidungen zu machen. Nur so kann der Primat der Politik wiedergewonnen werden. Kurz: die politische Einigung Europas ist die Fortsetzung des Demokratiegedankens im Zeitalter der Globalisierung.

Das geht natürlich nur, wenn Europa auch in seinem Inneren demokratisch organisiert wird. Und das bedeutet:

a) Das Europäische Parlament muß ein echtes Parlament mit echten parlamentarischen Befugnissen werden. Das geht mit Sicherheit nicht von heute auf morgen. Aber wenigstens das Ziel muß klar sein.

b) Die Nationalstaaten werden auf absehbare Zeit Träger der Meinungsbildung in den wichtigen Fragen bleiben. Aber auf lange Sicht braucht eine europäische Demokratie auch eine europäische Öffentlichkeit, in der Grundsatzfragen über Landesgrenzen hinweg diskutiert werden. Auch das wird nicht in wenigen Jahren zu erreichen sein. Aber wir müssen daran arbeiten.

c) Europa muß, wo es wirklich gebraucht wird, handeln können. Aber es darf nicht für alles und jedes zuständig sein.

Also muß sich die europäische Entscheidungsebene auf diejenigen Politikfelder konzentrieren, auf denen die Nationalstaaten für sich allein nicht mehr entscheiden können: Über die gemeinsame Währung, die europäische Außen- und Sicherheitspolitik, über das gemeinsame Auftreten vor den Foren der Weltpolitik. Hier, in diesen entscheidenden Fragen, ist die eine Stimme des einigen Europa gefordert. Europa muß wirklich handlungsfähig werden. Deshalb müssen wir dann auch bereit sein, in wichtigen Fragen vom Einstimmigkeitsprinzip Abschied zu nehmen.

Aber hier geht es nicht um eine Einbahnstraße, und das bedeutet vor allem den Verzicht auf Normierungs- und Vereinheitlichungsphantasien, die in ihrer Mischung aus Größenwahn und Kleinlichkeit überflüssig sind. Wahrscheinlich schadet gerade derjenige Europa am meisten, der möglichst alle Kompetenzen nach Brüssel verlagern will. Entscheidungen müssen stets auf möglichst niedriger Ebene gefällt und dort auch verantwortet werden. Im Maastrichter Vertrag ist das Subsidiaritätsprinzip als das wichtigste Ordnungsprinzip des neuen Europa verankert. Es wird künftig der tägliche Lackmustest sein, ob dieses Prinzip im politischen Alltag auch verstanden und durchgehalten wird.

Kommen wir zur zweiten, zur nationalstaatlichen Ebene: Das Prinzip der Subsidiarität gilt nicht nur für die innere Ordnung der europäischen Institutionen. Auch in der Ordnung unseres eigenen Landes muß seine Nützlichkeit, ja seine heilsame Wirkung neu entdeckt werden. Hat der Bund im Laufe der Zeit nicht immer mehr Aufgaben der Länder an sich gezogen, mit der Folge, daß die Zuständigkeiten immer verworrener werden und die Transparenz auf der Strecke bleibt? Und umgekehrt: Überheben sich die Bundesländer nicht, wenn sie in der europäischen Liga in Brüssel mitspielen wollen?

Wo scheinbar alle Verantwortung tragen, trägt in Wirklichkeit niemand die Verantwortung. Ein undurchsichtiges Geflecht von Kompetenzen und Finanzierungen entsteht, die Erpreßbarkeit des Gesamtstaats durch in Lobbies organisierte Gruppen nimmt zu. Ergebnis: Man handelt zwar, aber man handelt wie auf einem Basar. Deswegen sage ich: Wir brauchen nicht nur eine Steuerreform mit weniger Ausnahmen und niedrigeren Tarifen; wir müssen auch im Verhältnis von Bund und Ländern zu einer Entflechtung von Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen kommen. Finanzentscheidungen und Sachverantwortung müssen wieder zusammengeführt werden, oder, mit einfachen Worten: Wer bestellt, der soll - jedenfalls im Prinzip - auch bezahlen.

Die dritte Ebene sind die Länder:

Föderalismus ist nicht nur die vertikale Teilung der Gewalten. Richtig praktiziert, wird er ständig eine Vielzahl von möglichen Modellen und Lösungen hervorbringen, die in einen friedlichen Wettstreit der Ideen einmünden. Der Föderalismus setzt im politischen Bereich die Kreativität einer offenen Gesellschaft frei und er schafft zugleich dort Übereinstimmung, wo diese im Interesse des Gemeinwesens nötig ist. Das Prinzip stimmt also. Was fehlt, ist eine neue Verständigung darüber, was wirklich bundesweit geregelt sein muß und was der freien Entscheidung der Länder, ihrer Phantasie und ihrem Erprobungswillen gehören soll. Manche Einheitlichkeit wird darüber verlorengehen, aber auch manche Phantasielosigkeit. Wenn die Länder mehr Spielraum zum mutigen Experiment bekommen, werden auch neue Ideen Spielraum bekommen.

Und - viertens - noch ein Satz zur untersten Ebene, auf der die Politik den Bürgern am nächsten ist. Viele Kommunen praktizieren heute schon, oft aus der Not heraus, originelle und funktionierende Lösungen bestehender Probleme. Modernes Management und Bürgernähe gehen also fruchtbare Koalitionen ein. Die Städte und Regionen müssen daher ein Höchstmaß an Handlungsfreiheit bekommen. Die Demokratie ist in Europas Städten geboren. Hier bleibt ihre Lebensquelle, hier ist sie am direktesten erfahrbar.

Wenn der Staat also nach oben und nach unten Kompetenzen abgeben soll - was bleibt dann noch von ihm übrig? Wird ihn nicht der Verlust an Kompetenzen nach und nach so schwächen, daß er unbedeutend wird, gar abstirbt, wie es einst Karl Marx voraussagte?

Ich glaube, das Gegenteil wird der Fall sein. Wenn der Staat schlanker wird, wenn seine Strukturen und Aufgaben transparenter werden, wird zugleich für alle sichtbar, für welche Aufgaben er unverzichtbar bleibt: Menschenrechte, Rechtssicherheit, demokratische Willensbildung, nationale Identität, Sicherung von Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand, Garantie jenes Kerns an überregionaler Gleichheit, der für die Einheit des Landes und die Freizügigkeit der Bürger unerläßlich ist. Die Kompetenzverteilungsartikel der Paulskirchenverfassung beschreiben hier ganz gewiß nur einen Kern, der heute wesentlich ergänzt werden müßte. Aber es lohnt sich, sie wieder einmal zu lesen, und zu überdenken, welche Politikfelder man damals dem Reich zudachte. Schon das waren gewaltige Felder, die heute wie gesagt noch viel größer wären, und für sie muß der Staat dann tatsächlich auch stark sein.

All das wird auch in Zukunft nur von einem demokratischen Nationalstaat garantiert werden können, dessen politische Entscheidungsinstanzen aus gewählten und abwählbaren Repräsentanten bestehen. Hier muß der Bürger sich auf das Funktionieren des Staates und seiner Gesetze verlassen können; denn vor Interessengruppen und "Global Players" kann er seine individuellen Rechte nicht einklagen. Eine totale Entmündigung des Staates ist in niemandes Interesse. Auch die Wirtschaft kommt nicht ohne einen Staat aus, der seinen Aufgaben gerecht wird. Und nur er kann den inneren Frieden garantieren, ohne den auch Unternehmen nicht leben können.

Die Faszination von Demokratie und Freiheit, die in diesem Haus vor 150 Jahren die Herzen bewegte, ist heute nicht nur eine ferne Erinnerung. Im Gegenteil: Vor uns liegt eine große gestalterische Aufgabe. Strukturen und Ordnungen müssen erneuert werden, so daß Verantwortung wieder sichtbar, zurechenbar und demokratischer Entscheidung unterworfen wird. Ich gehe noch weiter: Wir müssen das Wissen um den Wert der Freiheit in der nachwachsenden Generation wieder fest verankern. Das ist vielleicht die größte Aufgabe, vor allem für Eltern, Erzieher, Politiker. Ich bin durchaus optimistisch, daß das auch gelingen wird.

Vor uns liegt ein neues Zeitalter:

- in dem statt der Anonymität zentralistischer Großorganisationen zivilgesellschaftliches Engagement das Gemeinwesen mittragen muß,

- das Freiräume schafft, indem der Staat seine Aufgaben auf das Wesentliche zurücknimmt und dadurch zugleich seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnt,

- ein europäisches Zeitalter, in dem die neuen Institutionen in den Köpfen und Herzen der Bürger verankert sein müssen.

Lassen Sie uns ans Werk gehen. Eine der Lehren aus der Paulskirche ist es ja auch, daß die Zeitfenster für politische Veränderungen nicht beliebig lange offen stehen, und daß es sehr lange dauern kann, bis sie sich ein zweites Mal öffnen. Wir haben zurückgeschaut. Jetzt muß sich der Blick nach vorne richten.